Vorbeugen ist besser als Bomben

Dringend erforderlicher Wegbereiter: Dieter S. Lutz ist ein typischer Friedensforscher. Er warnt, mahnt und sorgt sich um Deutschland. Ein Porträt

Ein origineller Vorschlag kam Ende der siebziger Jahre von der friedensbewegten Jugendorganisation der DKP: Sie beantragte, den Zerstörer "Hamburg" in "Rosa Luxemburg" umzutaufen. So etwas galt damals als phantasievolle antimilitaristische Aktion. Andere Aktivisten schlugen wenig später der Nato vor, die umstrittenen amerikanischen Pershing II-Raketen statt auf westdeutschem Territorium auf U-Booten zu stationieren. Sowjetische Atomschläge, so das Argument, würden dann im Kriegsfall die Heimat schonen.

Da seinerzeit ganze Heerscharen von Friedensamateuren über eine alternative Militärpolitik nachdachten, das Nachdenken aber wenig Resonanz fand, wurde bald der Ruf nach Profis laut. Die ließen sich nicht lange bitten, und so kam es, dass die - zum Teil bereits bestehenden - Institutionen der Friedensforschung zu neuen Ehren kamen. Ihr akademisch geschultes Personal zählte Panzer, Düsenjäger und Atombomben, machte Abrüstungsvorschläge, fahndete nach "Konfliktherden" und ging mit Vorschlägen für friedliche Konfliktlösungen hausieren.

Zu den größten Entdeckungen der Friedensforschung gehört die "Konfliktprävention": Meldet irgendjemand irgendwo Ansprüche an, die Interessen eines anderen Staates betreffen, und bestreitet der betroffene Staat diesen Ansprüchen ihre Berechtigung, dann liegt ein "Konflikt" vor, den Friedensforscher gerne vor dem Ausbruch bewaffneter Feindseligkeiten friedlich regeln würden.

Insofern beruht die Existenz der Friedensforschung im Wesentlichen auf zwei Tricks. Der erste: Man erfindet sich - oft, aber nicht immer im Einklang mit der Außenpolitik - ständig neue Einsatzfelder. Fassen etwa bewaffnete Banden, wie in Tschetschenien oder im Kosovo, die Schaffung eines eigenen Staates ins Auge, wird das zugehörige Treiben nicht unter kriminalistischen Aspekten betrachtet, sondern zum "Konflikt" geadelt, sobald es eine vorzeigbare Schlagkraft entwickelt. Dass man damit bereits Partei ergriffen hat, werden Friedensforscher entrüstet zurückweisen und stattdessen betonen, man wende die Wissenschaft nur auf das Faktische an.

Umgekehrt beim zweiten Trick: Obwohl Friedensforscher ganz genau wissen, dass Krieg zum Repertoire von Demokratie und Marktwirtschaft gehört, kreiden sie den Politikern nicht dies an, sondern stets lediglich das Versäumnis, die eigenen guten Ratschläge wieder einmal ignoriert zu haben. So schwingt in der kritischen Betreuung amtlicher Militärpolitik immer die friedenswissenschaftliche Erkenntnis mit, Deutschland sei zu Höherem berufen.

Wohl kaum jemand verkörpert die Anstrengungen der jüngeren Friedensforschung besser als Dieter S. Lutz; in den achtziger Jahren war er Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), später wurde er dort Geschäftsführer und seit 1994 ist er - als Nachfolger von Egon Bahr - wissenschaftlicher Direktor der Einrichtung. Seine friedenswissenschaftliche Laufbahn hätte aber genauso gut anders verlaufen können: 1992 berichtete die taz, Lutz habe sich auf eine Stellenausschreibung hin bei der Hamburger Bundeswehr-Universität um den Posten des Präsidenten beworben.

Berufsbedingt war Lutz also immer zur Stelle, wenn während der neunziger Jahre über Krieg und Frieden debattiert wurde. Am Anfang des Jahrzehnts stand die Geschichte von der "Friedensdividende". Erzählt von grünen Publizisten, linken Entwicklungspolitikern und Friedensforschern wie Lutz, will ihre Pointe darauf hinaus, nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Blocks könne man die bisher für Rüstung verausgabten Gelder in die friedlich-zivile Entwicklung des Globus investieren. Aber weil der Westen als Sieger des Wettrüstens sogleich neue Feinde und Bedrohungen entdeckte, kam es statt zu einer Auszahlung der Friedensdividende zur nachhaltigen Modernisierung des Wehr-Equipments.

Die Friedensforscher, die Anfang der neunziger Jahre auf satte Steigerungen ihrer Etats gehofft hatten, sind darüber sehr beleidigt und trauern der nicht eingelösten "Jahrhundertchance" (Lutz) bis heute hinterher: "Über Jahrzehnte hinweg aber war das große Versprechen aller politischen Akteure und Entscheidungsträger, die großen existenziellen Probleme der Menschheit zu lösen, wenn erst einmal der Ost-West-Konflikt beseitigt ist" (Lutz, 1995). So klingt Kritik, die den Glauben an die guten Absichten der Politik zu ihrem Essential gemacht hat.

Verbunden mit der Schnaps-Idee einer Friedensdividende hatten die Friedensforscher seinerzeit Strategien der "Krisenprävention", und diesen Begriff machte sich die Politik durchaus zu eigen: Ob im Falle des Golf-Krieges, Somalias, Kambodschas, Bosniens oder des Kosovo - immer wenn bewaffnete Kräfte in Marsch gesetzt wurden, verkündeten die zuständigen Stellen, künftig müsse man Konflikte dieser Art durch vorbeugende Aktivitäten verhindern.

Musik für die Friedensforscher, die von nun an ständig damit beschäftigt waren, die Politiker an diese Versprechungen zu erinnern. "Zu den Paradoxien der europäischen Ordnung von heute gehören zum Beispiel lautstarke Bekenntnisse aller politischen Kräfte zur Krisenprävention einerseits und die gleichzeitige Ignoranz und Passivität (Ö) gegenüber erkennbaren oder gar schon eskalierenden Konfliktpotenzialen andererseits", schrieb Lutz in einem Rückblick auf den Kosovo-Krieg vor vier Wochen im Freitag.

Keineswegs ist diese "Paradoxie" jedoch Anlass, den Friedenswillen der Politik in Frage zu stellen, was fehlt, sei Überzeugungsarbeit: "Krisen und Kriege, die mit hohem Finanzaufwand erfolgreich verhütet würden, wären stets dem Zweifel ausgesetzt, ob sie denn ohne entsprechende Vorsorgemaßnahmen wirklich ausgebrochen wären. Politiker, die wiedergewählt werden wollen, stehen in Demokratien aber unter dem ständigen Rechtfertigungsdruck des Wahlvolkes, insbesondere wenn es um große finanzielle Belastungen geht", so Lutz in der FAZ im Mai 1999.

Krisenprävention stellen sich Friedensforscher nämlich so vor: Man packt ein paar Koffer mit Geld voll und schickt diese in Begleitung geschulter Konfliktmoderatoren ins Krisengebiet, wo dann die Ansprüche der Konfliktparteien sortiert und so weit befriedigt werden, dass ihre gewaltsame Durchsetzung sich einstweilen erübrigt.

So etwas funktioniert aber nur in einem "System gemeinsamer Sicherheitsvorsorge" (Lutz). Hier hat Lutz ein Modell gefunden, das just in seinem kritischen Gestus demonstriert, wie sehr deutsche Friedensforschung und nationale Machtentfaltung zusammenhängen. Die Argumentation funktioniert nach diesem Schema: "Der Kalte Krieg ist vorbei, der Warschauer Pakt ist aufgelöst, Deutschland ist wiedervereint. Frieden und Sicherheit könnten endlich auf ein dauerhaftes und stabiles Fundament gestellt werden" (Lutz, 1994). Damit werden zwei Legenden auf einen Schlag bekräftigt: Der Warschauer Pakt und die Teilung Deutschlands seien latente Bedrohungen für den Weltfrieden gewesen.

Komplettiert wird dies durch einen Textbaustein, den Lutz vor, im und nach dem Kosovo-Krieg immer wieder verwandte: "Solange sich aber die Europäer nicht auf eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitspolitik einigen, solange wird Amerika in Europa seinen dominanten, ja hegemonialen Einfluss behalten. (...) Soll er beendet werden, so muss der Tabubruch mit gedacht werden: Entweder die USA ordnen sich (der Vision) einer Sicherheitsordnung nach dem Leitgedanken der Stärke des Rechts unter, oder die Sicherheitsarchitektur Europas muss zumindest auf Zeit auf die Einbeziehung Amerikas verzichten." So etwas lesen deutsche Linke und Linksliberale gern, und deshalb war es in der jungen Welt (am 18. Januar), in der Woche (am 29. April) und im Freitag (am 17. September) abgedruckt.

Inzwischen weiß Lutz auch genau, wie man die USA austricksen kann. Er wendet die Frage nach einem neuen "deutschen Sonderweg" positiv und schreibt im Freitag: "Nur Ideologen und Apologeten denunzieren die Rolle des dringend erforderlichen Wegbereiters und beispielhaften Vorreiters bei der Suche nach einer dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung als Sonderweg."

Im Zeichen einer "Zivilmacht Europa" müsse "Deutschland als stärkste Macht" auf die Achse Paris-Berlin-Moskau setzen: "Nur im Schulterschluss von Frankreich und Deutschland und unter gleichberechtigter Beteiligung Russlands und anderer Staaten kann der Aufbau Europas gelingen", die USA müssen draußen bleiben. "Deutschland muss endlich seine recht verstandene Führungsrolle in und für Europa übernehmen: Dem Frieden dienen!"

Nie hatten deutsche Führer etwas Anderes im Sinn, und deshalb ist die Vision so grausig. Sie will aber auch den Wert kritischer Wissenschaft demonstrieren: offen sagen, was andere nur denken dürfen. Herr Fischer, übernehmen Sie?