Alternative Lebensformen

Züge gucken

Am Bahnhof Zoo ist was los! Kreischende Schulklassen, die alles umrennen, was ihnen in die Quere kommt, in Zeitlupe umherschwankende Junkies, sich gegenseitig beschimpfende Alkies auf dem Parkplatz. In der Ecke haben einige Interrailer auf ihren Isomatten ein komplettes Abendbrot aufgetischt, und ein Meer von Reisenden drängelt sich auf den Bahnsteigen.

Das alles lässt Achim kalt. Wirklich aufregend an so einem Großstadtbahnhof ist das, was auf den Schienen passiert. Ungefähr alle zehn Minuten rollt ein neues Stahlross ein. Achim braucht gar nicht auf die Anzeige zu schauen - er hat die Ankunftszeiten im Kopf und weiß genau: Als Nächstes kommt der Interregio aus Hannover: 18 Uhr 46. Das könnte spannend werden. Achim ist gut ausgerüstet: Schnell zückt er den Kugelschreiber und seine Liste mit den Zügen, auf die es ankommen wird heute Abend.

Denn Achim ist Profi. Mit einem geübten Blick überfliegt er den Zug. Er registriert die Zugnummer, die Anzahl der Waggons, technische Details, auf die sonst keiner achtet. Vor allem interessiert ihn die Lok. Schnell notiert er ihre Nummer: 101 398 654 - die hat er noch nicht in seiner Sammlung.

Achim geht es darum, den Umlaufplan aller Interregio-Züge zu knacken. Jedes Jahr im Mai kommen die neuen Fahrpläne der Deutschen Bahn heraus. Dann geht es los mit dem Züge-Gucken. Ganze vier Monate hat Achim gebraucht, um herauszufinden, wie, wann und wo das Unternehmen Zukunft seine ICEs einsetzt. Nachdem er dieses Projekt erfolgreich abgeschlossen hat, kann sich der junge Mann nun endlich den Interregios zuwenden. Derzeit fahren 145 von ihnen durch Deutschland. Jeder davon könnte auch im Berliner Bahnhof Zoo einmal einlaufen, und das will Achim nicht verpassen.

Manchmal bleibt er fünf Stunden und notiert sich alle ankommenden Züge. Scheint die Sonne, ist das angenehm. Regnet es, stellt Achim sich unter das Dach. Aber das ist unpraktisch, weil dort die Sicht auf den infrage kommenden Zug oft durch andere Züge verstellt ist. Am günstigsten ist es ganz am Ende des Bahnsteiges. Hier stören keine Leute, die tatsächlich nur zum Bahnhof kommen, um zu verreisen. Heute ist Achim alleine. Manchmal trifft er auf Gleichgesinnte. Man kennt sich hier am Ende des Bahnsteigs, tauscht die aktuellsten News über Werbezüge und Fahrplanänderungen aus.

Trainspotting ist eben nicht nur eine exotische Kopfgeburt der zur Exzentrik neigenden britische Seele. Es ist real existierend - nicht nur eine wilde Idee, sondern ein tatsächliches Hobby. Trainspotter registrieren Zug um Zug. Und sie lassen keinen Berliner Bahnhof aus. Ganz normal gekleidet, erkennt man sie kaum. Manche tarnen sich sogar mit einer Reisetasche. Sie sind mitten unter uns.