Glaubwürdiges Potenzial

In den Fusionen europäischer Rüstungsfirmen wird die Ökonomie wieder mal ganz schön politisch.

Sieben Tage ging es Schlag auf Schlag: Lange erwartet, wurde am 14. Oktober die Fusion der von DaimlerChrysler kontrollierten Dasa und der französischen Aérospatiale Matra angekündigt. Mit der EADS (European Aeronautic, Defense and Space Company) entsteht das drittgrößte Luft- und Raumfahrtunternehmen der Welt, das über eine ansehnliche Abteilung für Rüstungsforschung und -produktion verfügt. Fast 90 000 Beschäftigte werden einen Umsatz von mehr als 20 Milliarden Euro erwirtschaften; im Bereich der Hubschrauberproduktion und der Trägerraketen ist der neue Konzern Weltmarktführer, um die vorderen Ränge spielt die EADS auch bei Satelliten, Militärflugzeugen und sonstiger Verteidigungstechnik mit.

Während die Fachwelt noch rätselte, ob angesichts der deutsch-französischen Fusion die über das Airbus-Konsortium mit Dasa und Aérospatiale verbundene British Aerospace beleidigt sei, wurde am 18. Oktober ein weiterer Zusammenschluss von Format gemeldet: Die neue EADS und British Aerospace fusionieren ihre Raumfahrtsparten unter dem Namen Astrium, und so entsteht unter Einschluss der deutschen Dornier Satellitensysteme (Dasa) ein weiterer europäischer Wehrkonzern der Spitzenklasse.

Zwei Tage später kündigten Aérospatiale Matra, British Aerospace und die italienische Finmeccanica die Fusion ihrer Lenkraketen-Abteilungen an, eine Konstruktion, in die auch die Dasa-Tochter LKF noch einbezogen werden soll. Dieser Konzern wird mit 10 000 Beschäftigen und einem Umsatz von rund 2,5 Milliarden Euro der weltweit zweitgrößte Hersteller von Lenkraketen sein.

Mit diesen Fusionen melden die führenden Waffenfirmen aus der EU nachdrücklicher als jemals zuvor den Anspruch an, im Wettbewerb um die wehrtechnische Bestückung des Globus mitzumischen. Weitverzweigte Kooperationen und wechselseitige Beteiligungen sind zwar seit vielen Jahren die Regel, bezogen sich aber bisher meist auf einzelne Unternehmensabteilungen oder wehrtechnische Projekte. Die Zusammenschlüsse der letzten Wochen dagegen, darin sind sich Unternehmensvertreter und Kommentatoren einig, schaffen die lang ersehnten Voraussetzungen, den während der neunziger Jahre durch staatlich geförderte Großfusionen gestärkten Amerikanern ernsthaft und überall Konkurrenz zu machen (Jungle World, 32/99).

Dabei mutet es bizarr an, dass die Vereinbarungen fast ausschließlich in den Wirtschaftsressorts der Zeitungen und Nachrichtenmagazine begutachtet wurden. In der Sichtung rein ökonomischer Perspektiven war plötzlich jener Aspekt verschwunden, der die Kriegstechnik zu einem besonderen Gegenstand der Marktwirtschaft macht.

Angesichts der aktuellen Fusionen scheint das ansonsten geradezu schwelgerisch vorgetragene Wissen darüber verloren, dass im Rüstungssektor die Ökonomie in einem sehr vordergründigen Sinne politisch ist. So hatte - nur ein Beispiel für viele - am ersten Tag des Kosovo-Krieges die FAZ in einem Vorbericht zum Berliner EU-Gipfel über "Europäische Verteidigungsidentität" nachgedacht, fachkundig Defizite beim "Durchhaltevermögen" und in der "Flexibilität und Mobilität europäischer Streitkräfte" entdeckt und folgenden Schluss gezogen: "Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist notwendig und überfällig. Sie sollte sich auf eine europäische Verteidigung stützen können. Wenn es den Europäern damit Ernst ist, werden sie enorme Anstrengungen unternehmen müssen."

Genau das passiert jetzt, und in der Erwartung schöner Geschäftsbilanzen werden die an den Fusionen beteiligten Unternehmer durch die Gewissheit bestärkt, exakt das zu unternehmen, was die Politik seit langem und in jüngster Zeit immer nachdrücklicher fordert.

Die ernst gemeinte Forderung nach einer "Europäischen Verteidigungsidentität" ist ungefähr 15 Jahre alt. Sie entstand Mitte der achtziger Jahre zunächst als westdeutsch-französische Idee eines "unabhängigen westeuropäischen Nato-Pfeilers"; neuen Schub und eine immer klarere Akzentuierung autonomer Zuständigkeit erhielt sie, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das wiedervereinigte Deutschland via EU international stärker mitreden wollte.

Unabhängig von amtlichen Treueversprechen stellt ein eigenständiger europäischer Kriegsapparat die weltpolitische US-Hegemonie in Frage. Erst eine Woche vor Bekanntgabe der jetzigen Fusionen hielt US-Vize-Außenminister Strobe Talbott in London eine unmissverständliche Rede zur "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsinitiative" (ESVI): "Wir möchten keine ESVI, die erst innerhalb der Nato entsteht, dann aber der Nato entwächst und sich schließlich der Nato entfremdet."

In den vor allem von Deutschland und Frankreich vorangetriebenen und um die Entwicklung der WEU zentrierten Debatten über die autonome Europa-Wehr spielte eine eigenständige Rüstungsindustrie von Beginn an eine herausragende Rolle. 1997 beschlossen die WEU-Verteidigungsminister in Erfurt die Errichtung einer "Europäischen Rüstungsagentur" zur Anschaffung des für größere Auslandsinterventionen benötigten Geräts; 1998 erschien eine Expertise der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung, die unter der Überschrift "Europas Rüstungspolitik vor neuen Herausforderungen" die Defizite der "wehrtechnischen Kernfähigkeiten" so umriss: "Obwohl derzeit die Diskussion vor allem um die Hochtechnologiebereiche Luft- und Raumfahrt sowie Verteidigungselektronik kreist, werden sich auch die Heeresindustrie und der Marineschiffbau dem Europäisierungstrend nicht entziehen können."

Schon gar nicht entziehen will sich dem Trend die deutsche Regierungkoalition. Da sich die Mängel europäischer Wehrfähigkeit im Kosovo-Krieg erneut zeigten, nutzte man die eigene EU-Präsidentschaft, um Druck zu machen. Auf der WEU-Ministerratstagung in Bremen stellte Verteidigungsminister Rudolf Scharping am 10. Mai "vor allem Defizite in den Bereichen strategischer Lufttransport, strategische Aufklärung und bei der Interoperabilität von Führungs- und Fernmeldefähigkeiten" fest. "Diese Defizite müssen beseitigt werden", denn "europäische Handlungsfähigkeit in Verteidigungsfragen und eine eigenständige europäische Rüstungsbasis sind zwei Seiten einer Medaille."

Fast zeitgleich mit der Bekanntgabe der aktuellen Rüstungsfusionen legten Richard von Weizsäcker, Jean Dehaene und David Simon ihren von Kommissionspräsident Romano Prodi in Auftrag gegebenen Bericht zur Weiterentwicklung der EU vor. Im Kapitel "Verteidigung" ist von der "Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf ein glaubwürdiges militärisches Potenzial" die Rede. Fast schon dramatisch wird auf die "Dringlichkeit" und die "höchste Wichtigkeit des Themas der europäischen Verteidigungspolitik" hingewiesen: "Diese Frage ist von grundlegender Bedeutung für die Zukunft Europas und die Weiterentwicklung der Europäischen Union."

So gesehen erfüllt die Rüstungsindustrie eine historische Mission. Aérospatiale-Chef Jean-Luc Lagardere sprach bei der Bekanntgabe der Fusion von einem "neuen Kapitel in der Geschichte Europas". In diesem Sinne hat sich auch der neue EU-Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, zu Wort gemeldet. Es sei höchste Zeit für Europa, erklärte er bei seinem Amtsantritt vergangene Woche, eine "aktivere und einflussreichere Weltmacht" zu werden.