Jenseits aller Grenzen

Die EU will Flüchtlinge bereits in den Herkunftsländern abwehren - mit Hilfe von NGOs.

So viel Zustimmung hatten die EU-Regierungschefs von ihren Kritikern wohl kaum erwartet. Die abschließende Erklärung des EU-Sondergipfels in Tampere zur Asylpolitik von vergangener Woche wurde von den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie ein Sieg gefeiert. Die europäische Asylpolitik werde sich auch künftig an der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren, hieß es zwar nur lapidar in der Erklärung.

Doch für die rund 300 zum Gegengipfel erschienenen Flüchtlings-Lobbyisten war dies Grund genug, um die Rede des finnischen Vorsitzenden der EU-Arbeitsgruppe Asyl und Migration, Hannu Kyröläinen, freudig zu beklatschen. Schließlich hätten die europäischen Ratsherren damit positiv auf die Kritik des zeitgleich tagenden Gipfels von NGOs und Flüchtlingsräten reagiert.

Grund zur Hoffnung allerdings besteht für die betroffenen Flüchtlinge nicht: Die EU will zwar ein rudimentäres Asylrecht erhalten. Die Zahl derer, die in den Genuss europäischen Schutzes kommen, wird dennoch weiter sinken. Denn zugleich mit der asylpolitischen Willenserklärung des Rates wurde die Forcierung der EU-Aktionspläne und eine besser koordinierte Bekämpfung "illegaler" Migration beschlossen. Die Fluchtabwehr soll weiter in die außereuropäische Peripherie hinein verlagert werden, wo sie jeder Kontrolle entzogen ist.

Nach den Vorgaben des Planes soll eine Flucht in den Herkunftsländern möglichst unattraktiv erscheinen. Gleichzeitig werden die benachbarten Staaten in die konkrete Flüchtlingsabwehr einbezogen - durch den konzertierten Einsatz von diplomatischen Interventionen, gezielter Kreditvergabe, humanitärer Hilfe und zur Not militärischen Zwangsmitteln. So besuchen schon seit Mitte dieses Jahres Offiziere der türkischen Grenzpolizei Fortbildungskurse der EU, um sich auf ihre künftige Aufgabe vorzubereitet: Sie sollen Flüchtlinge aus dem kurdischen Nordirak abfangen, registrieren und im Zweifelsfall auch wieder zurückschicken.

Die begleitenden Maßnahmen vor Ort werden wiederum direkt über die europäische Geber-Organisation für humanitäre Maßnahmen, Echo, abgewickelt. Damit sind die europäischen Hilfsprogramme direkt dem übergreifenden Ziel der Fluchtverhinderung untergeordnet. Der Unterschied zwischen NGOs und Regierungsorganisationen beschränkt sich künftig nur noch auf die Frage, wer über die Vergabe der Gelder entscheidet. Wer als Helfer aus Solidarität begann, findet sich plötzlich in der Lagerverwaltung wieder.

Bereits heute leben die meisten der in Krisenregionen tätigen europäischen NGOs fast ausschließlich von Echo-Geldern. Kein Wunder also, dass die Kritik an den EU-Aktionsplänen während des Gegengipfels des Europäischen Flüchtlingsrates nur sehr zaghaft ausfiel. Gefordert wurde lediglich, dass die NGOs bei der Ausarbeitung eines europäischen Asylrechts beteiligt werden sollten. Schließlich gehe es allen Beteiligten um eine "erfolgreiche Umsetzung" der Menschenrechte in den Verfolgerstaaten.

Bei den wenigen Betroffenen, die aufs Podium geladen waren, stieß diese Anbiederung an die Regierenden auf Kritik. Der aus dem Irak geflohene Ökonom Feridoon Abdullah bezeichnete den Versuch der Arbeitsgruppe, politische Herrschaftsverhältnisse als humanitäre Probleme zu deklarieren, als koloniales Gehabe. Eine Kritik, die schnell als "Opferperspektive" abgetan wurde. Viele der am Gegenkongress beteiligten Gruppen hatten anderes im Sinn - wie beispielsweise die Médecins sans frontières (MSF), die bereits seit Jahren praktizieren, was die Aktionspläne heute fordern. Der internationale Hilfsmulti, der für sein Engagement im Sinne der europäischen Fluchtabwehr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist weltweit an jedem Krisenherd präsent, um mit Decken, Lebensmittelmarken und Notbehausungen Flüchtlingsströme dort aufzufangen, wo sie entstehen. Die aktuelle Werbekampagne der Organisation weist den Weg, der den europäischen NGOs mit den Aktionsplänen gerade bereitet wird. Mit den traurigen Augen von Flüchtlingskindern werben die MSF für ihr Programm: "Give him the right to stay home".

Organisationen wie MSF haben schon bei diesem Kongress deutlich zu verstehen gegeben, dass nicht die Aufnahmepolitik, sondern die Fluchtverhinderung zukünftig maßgeblich sein werde. So konnte nur mit Mühe verhindert werden, dass der MSF-Aufruf zum Heimatschutz als großflächiges Banner über dem Eingang des Gegengipfels drapiert wurde.

Welche Folgen die avisierte Kombination aus Fluchtabwehr und humanitärer Hilfe hat, zeigt die Entwicklung in den kurdischen Gebieten im Nordirak. Seit 1992 wird die Region mit Nothilfegeldern künstlich am Leben gehalten. Aus Angst vor einer unabhängigen kurdischen Region wurden weder eine eigenständige Verwaltung noch ein wirtschaftlicher Wiederaufbau der Region gefördert. Stattdessen wurden die Hilfsmittel gezielt an der lokalen Verwaltung vorbei über NGOs wie den MSF abgewickelt. Binnen Kürze zerfiel die Region in konkurrierende lokale Verbände.

Heute sind dort nur die Eliten geblieben, die es verstanden haben, die Akkumulation von Hilfsmitteln mit bewaffneten Verbänden zu sichern. In allen Teilen der kurdischen Region herrscht ein Regime, das sich mit Gewalt gegen jeden wendet, der eine Gefahr für den Fortbestand dieses Wegelagerer-Kapitalismus darstellt. Parallel bietet sie den internationalen Organisationen jedoch ihre Strukturen an, die eine widerstandslose Umsetzung ihrer Programme vor Ort gewährleisten.

Nicht ohne Stolz weist der Aktionsplan Irak darauf hin, dass Echo im kurdischen Nordirak die größte Geber-Organisation darstellt. Der kurdische Nordirak wird nun von der EU als Modellfall für andere Regionen angepriesen. So schlägt beispielsweise der Aktionsplan Afghanistan einen ähnlichen Nothilfegürtel entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze vor.

Der Optimismus, mit dem die europäischen Flüchtlingsorganisationen die Ergebnisse des Sondergipfels aufnahmen, dürfte der Not entspringen, die fatale Niederlage in einen Erfolg umzumünzen. Nur beim abendlichen Bier in der Bar des Kongresshotels, das mit dem Slogan "A home away from home" für sich wirbt, wurden noch kritische Prognosen über die EU-Asylpolitik gewagt - während draußen der irakische Kongress-Referent noch mit der Hotel-Rezeption verhandelte, die seinen Flüchtlingspass nicht als Ausweis akzeptieren wollte.