Das Schweigen der Lämmer

Die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs und das Gedächtnis der SPÖ.

Wochenlang konnte man die rassistischen Wahlplakate der FPÖ in Wien sehen, ohne dass eine nennenswerte Reaktion der Sozialdemokratischen Partei (SPÖ) erfolgte. Als Ariel Muzikant, Präsident der Jüdischen Gemeinde, sich an führende SPÖ-Politiker wandte und um eine Stellungnahme bat, wurde ihm beschieden, dass eine solche nur Haider helfen würde.

Muzikant wartete bis zwei Wochen nach der Wahl, um die österreichischen Medien zu informieren, dass sich die Anzahl der Schmäh- und Drohbriefe, die österreichische Juden erhalten, während der letzten sechs Wochen "um das Zehnfache" erhöht hat. Bereits zuvor hatte Muzikant schon darauf hingewiesen, dass sich diese Juden fürchteten, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Kein Wunder, ein großer Teil der Wiener Polizei besteht aus Anhängern der FPÖ und häufig kommt es hier zu rassistischen Übergriffen.

Erst vergangene Woche fühlte sich Innenminister Karl Schlögl, SPÖ, bemüßigt, auf die "gefährliche Stimmung" hinzuweisen, die der Wahlkampfauftritt der Freiheitlichen und ihre fremdenfeindliche Propaganda ausgelöst haben. Die "überraschende Deutlichkeit" Schlögls komme "um Wochen" zu spät, kommentierte daraufhin der Standard. Auch lägen die Positionen von Schlögl und Haider in der "Ausländerfrage" "gar nicht so weit auseinander". Der Innenminister "und die Strategen seiner Partei" sollten daher "aus Anstand" von einer Teilnahme an der für den 12. November geplanten Großkundgebung "Keine Koalition mit dem Rassismus" absehen.

Das Versagen der Sozialdemokraten gegenüber Haider mag auf den ersten Blick überraschen, gehörte doch einst der Antifaschismus zum Gründungsmythos der SPÖ nach dem Ende der Nazi-Diktatur. Wie ist das zu erklären? Ein Rückblick auf die jüngere Geschichte der österreichischen Sozialdemokraten kann dabei behilflich sein.

Am Albertinaplatz, mitten in Wien, hat Alfred Hrdlicka die Gründungsurkunde der Zweiten Republik als "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" in Stein gemeißelt: "Angesichts der Tatsache, dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat (...)".

Ehrlicher - und schon deswegen unerwünscht - wäre es gewesen, den Sozialisten Karl Renner zu zitieren, der am 29. August 1945 sagte: "(...) dass alle diese kleinen Beamten, die kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazis gar nicht weittragende Absichten gehabt haben - höchstens, dass man den Juden etwas tut (...). Wenn nun diese Leute schwer bestraft werden und ihre Stellung verlieren, so appellieren sie an das Mitleid und das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen und es kann sein, dass dann die Stimmung umschlägt; und dies umso mehr, als es fast keine Familie, auch keine sozialistische Arbeiterfamilie gibt - ich gebrauche dieses Wort für sozialdemokratisch und kommunistisch -, die nicht in der näheren oder ferneren Verwandtschaft Leute hat, die mit den Nationalsozialisten mitgegangen sind." Freilich sprach das erste Staatsoberhaupt diese Worte nicht öffentlich, sondern in einer Kabinettssitzung aus.

Die sozialdemokratischen Austromarxisten führten in der Ersten Republik (1918 bis 1938) eine radikale Sprache, die es ihren Gegnern ermöglichte, den Sozialdemokraten diktatorische Absichten im Sinne der Sowjetunion zu unterstellen. Diese "linke" sozialdemokratische Führungsschicht überlebte die Naziherrschaft nicht. Die meisten wurden aus "rassischen" Gründen vertrieben oder deportiert. Nach 1945 wurde die Partei vom gemäßigten (fast "judenreinen") Flügel geführt.

Die Sozialdemokraten unterschätzten beharrlich den Antisemitismus als Sozialismus des dummen Wiener Kerls. Doch alle Äußerungen führender Sozialdemokraten vor 1934 waren leider für eine antisemitische Deutung geeignet und, schlimmer noch, manches antikapitalistische Plakat hätte auch der Stürmer übernehmen können. Ihren christlich-sozialen Gegnern warfen diese "Linken" vor, das jüdische Kapital zu "schützen". Eine derartige Argumentation führte zu einem Mangel an Sensibilität gegenüber den Gefahren des Judenhasses - umso mehr, wenn dies von jüdischen Parteiführern geduldet wurde, die auch ihre eigene Herkunft herunterspielten, weil sie der Partei den "Vorwurf" ersparen wollten, sie würde nur die Interessen der Juden vertreten.

Die Austromarxisten sahen vor 1938 den Nationalsozialismus als deutsche Variante des Faschismus und wiesen immer wieder auf Ähnlichkeiten zwischen der NS-Herrschaft und dem klerikal-autoritären Regime in Österreich (1934 bis 1938) hin. Der Antisemitismus wurde als unwesentliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Gesellschaft und nicht als wesentliches Element des Nationalsozialismus gesehen.

Die meisten der "arischen" sozialdemokratischen Funktionäre zogen sich während der NS-Herrschaft in die "Innere Emigration" zurück. Manche fanden ihren Weg zur NSDAP oder rechtfertigten Teile von deren Politik, wie zum Beispiel Karl Renner, der den Anschluss begrüßte und auch die Besetzung des Sudetenlandes. Dem späteren Bundespräsidenten Adolf Schärf erschien der Gedanke, den Anschluss rückgängig zu machen, "wie eine Erleuchtung" - allerdings erst 1943, also nach Stalingrad.

Nach der Befreiung ging die SPÖ gemeinsam mit der ÖVP und der KPÖ daran, die Zweite Republik zu errichten. Es kam zu einer eher bürokratischen Entnazifizierung mit der auch der nationalsozialistische "Geist" beseitigt werden sollte. Doch dies wurde gleichgesetzt mit einer Entfernung des "deutschen" Einflusses in Österreich. Man bekannte sich zum "Österreichertum" und stellte keine Fragen nach den spezifisch österreichischen Wurzeln des Nationalsozialismus.

Nach 1945 stellte sich die Frage der Rückgabe des jüdischen Eigentums und einer Entschädigung der aus Österreich vertriebenen Juden. Ministerratsprotokolle aus dieser Zeit bezeugen einen tief gehenden Zynismus unter den Regierungsmitgliedern aller drei "antifaschistischen" Parteien. Der von den Alliierten anerkannte Opferstatus, der vor allem die Auslöschung des Staates Österreich nach dem Anschluss hervorhob, diente als Rechtfertigung dafür, die Entschädigung der ersten Opfer des angeblich "ersten Opfers" - also der Juden Österreichs - "in die Länge zu ziehen", so der ehemalige Innenminister Oskar Helmer (SPÖ).

In diese Reihe fügt sich auch der mächtige Wiener Ex-SPÖ-Chef Hans Mayr ein, mit dem das Wochenmagazin profil Ende Oktober ein Interview führte. Darin verteidigte Mayr, der die FPÖ für "prinzipiell" regierungsfähig hält, Haiders Aussage über die "ordentliche Beschäftigungspolitik" der Nazis: "Ich kann nicht über Generationen die Frage von Schuld und Sühne stellen. Da muss man einen Schluss-Strich ziehen."

Die antisemitische Einstellung von Politikern aller Parteien und die Schikanen der Bevölkerung gegen Juden waren nur ein milder Ausdruck der wahren Stimmung der Bevölkerung nach dem "Zusammenbruch" des "Dritten Reichs". Immer wieder kam es auch zu antisemitischen Ausschreitungen. Wiens damaliger Bürgermeister Theodor Körner (SPÖ) nannte Berichte darüber "bewusste Lügen oder gedankenloses Geschwätz, denn der Wiener ist Weltbürger, und daher von vornherein kein Antisemit".

Die Tatsache, dass Bruno Kreisky, SPÖ-Politiker jüdischer Abstammung, 1970 Bundeskanzler werden konnte, wurde als ein Zeichen dafür gesehen, dass Österreich in seinem Verhältnis zu den Juden eine tief greifende Wandlung durchgemacht hätte. Kreisky, der in Kärnten von erbosten Gegnern der zweisprachigen Ortstafeln als "Saujud" bespuckt wurde, erklärte: "Es gibt heute keinen Antisemitismus mehr in Österreich. Das wird den Leuten höchstens eingeredet. Ich habe nie irgendeinen Antisemitismus verspürt." Freilich verschwieg er, dass bei den Wahlen 1970 ein markiger Dr. Klaus, damals regierender Bundeskanzler, als "echter Österreicher" einem offenbar nicht echt österreichischen Dr. Kreisky gegenübergestellt wurde.

Als nun während der letzten Wahlkampagne die FPÖ Bilder von Haider und Prinzhorn mit der Aufschrift "echte Österreicher" plakatieren ließ, schwiegen dazu die sozialdemokratischen Politiker. Sie versuchen auch noch, den hier tief verwurzelten Antisemitismus zu leugnen bzw. zu ignorieren und führen die FPÖ-Ausländerpolitik der rassistischen Brandstifter gnadenlos durch.

Karl Pfeifer war - ohne je Mitglied der SPÖ zu sein - lange Jahre freier Mitarbeiter der sozialdemokratischen Tageszeitung AZ und der Zukunft, dem Diskussionsorgan der SPÖ. Er lebt heute als freier Publizist in Wien.