Angriff aufs Archiv

Wie speziell arbeitet "Ein Spezialist"? Eyal Sivan und Rony Brauman inszenieren den Eichmann-Prozess mit dokumentarischem Material als Courtroom-Drama.

Die Diskussion um die Prozesse gegen die Nationalsozialisten waren von Begriffen wie "Gehorsam" und "Verantwortung" geprägt, es ging um die Frage, wie das Befolgen von Befehlen juristisch geahndet werden konnte. Das klassische Beispiel dafür ist der Fall Adolf Eichmann, der während des Nationalsozialismus zum Experten für das Judenproblem avancierte und die Deportationen organisierte.

Eichmann berief sich darauf, er habe nur Befehle ausgeführt und nie eigenhändig einen Menschen umgebracht. Er gilt als Protoyp des Schreibtischtäters. Eichmann war "Ein Spezialist" - so der Titel des Films des in Frankreich lebenden israelischen Regisseurs und Fotografen Eyal Sivan, der zusammen mit dem Autor Rony Brauman die filmischen Aufzeichnungen des Prozesses in Jerusalem ausgewertet hat.

Zum ersten und einzigen Mal wurde ein NS-Prozess filmisch komplett aufgezeichnet. Da es in Israel 1961 noch kein Fernsehen gab, war ein TV-Team aus den USA eingeflogen worden; erstmals wurde für die Prozess-Dokumentation außerhalb eines Fernseh-Studios Videotechnik benutzt. Vier Kameras, an unterschiedlichen Orten im Gerichtssaal verborgen, filmten die Verhandlung, und der amerikanische Regisseur Leo T. Hurwitz entschied, welche Szene aus welchem Blickwinkel aufgenommen werden sollte. Nach dem Prozess und der Hinrichtung Eichmanns am 31. Mai 1962 gerieten diese Aufzeichnungen in Vergessenheit, sie lagerten zunächst in New York, später in Israel. Die bekannten Bilder von Eichmann im Sicherheitsglaskasten entstammen dieser Aufzeichnung. Von insgesamt 500 Stunden Film wurden etwa 70 Stunden in den siebziger Jahren zu Dokumentationszwecken freigegeben.

Ausgangspunkt für Eyal Sivan war Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Gemeinsam mit Brauman machte er sich auf die Suche nach den Filmbändern, die sie in Räumen der Universität von Tel Aviv entdeckten. Bei der Sichtung stellte sich heraus, dass etwa 150 Stunden fehlten. Anhand der Protokolle wurden die Bänder in eine chronologische Abfolge gebracht. Aus diesem, 350 Stunden umfassenden Material entstand "Ein Spezialist". Arendts Bericht sei deswegen wichtig für den Film, so Sivan im Gespräch mit Jungle World, weil "sie sich auf den Täter konzentrierte und nicht auf die Opfer". Aus dieser Perspektive resultiert für ihn auch der Gegenwartsbezug: "Eichmann war ein Idealist, und seine Ideale waren Gehorsam und gute Arbeit." Und: "Wir haben ihre Sicht auf Eichmann übernommen", sagt Sivan.

Eichmann leugnete nicht, sondern redete, verbesserte pedantisch und benahm sich devot, nicht ohne auf seine "gute Arbeit" stolz zu sein. Eichmann, wie ihn der Film zeigt, bestätigt Arendts Einschätzung mit seinen eigenen Worten. Vor allem aber unternimmt der Regisseur den Versuch, Arendts These von der "Banalität des Bösen" über die Dramaturgie des Films herauszuarbeiten, der zwar dokumentarisches Material benutzt, aber wie ein Spielfilm, genauer: ein courtroom drama, funktioniert.

Der Vorspann listet die Beteiligten - die Richter, den Staatsanwalt, den Verteidiger und den Angeklagten - als Darsteller des Film auf, der, in dreizehn Abschnitte gegliedert, die klassische Dramaturgie des Gerichtsfilms verwendet, und dies gelingt, obwohl der Prozess-Ausgang bekannt ist.

Die Spannung im Gerichtsfilm ergibt sich aus dem Verhältnis oder auch dem Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit. Zumeist wird der Gerichtsfilm durch die Suche nach der Wahrheit vorangetrieben. Aus dieser Wahrheit folgt das Happy End: die Vermählung abstrakter Rechtsprinzipien mit einem moralisch begründeten Anspruch auf Gerechtigkeit.

Gerichtsfilme, die NS-Verbrechen verhandeln, fokussieren zumeist auf die Opfer, deren Leiden in den Zeugenaussagen zum Ausdruck kommen, und auf die Kälte der Angeklagten; sie inszenieren notwendig das Scheitern des bürgerlichen Rechts an Tatbeständen, die gerade deshalb so monströs sind, weil der Begriff "Verbrechen" sie nicht fassen kann, denn jeder dieser Tatbestände war durch Gesetze und Rechtsverordnungen abgesichert.

Der Staatsanwalt im Eichmann-Prozess, Gideon Hausner, ist bemüht, Eichmann zumindest einen eigenhändigen Mord nachzuweisen, um ihn als das Monster erscheinen zu lassen, das der Angeklagte nicht ist; Eichmanns Verteidiger Gerhard Servatius, ein bekannter Anwalt von Nazi-Größen, stellt nie Fragen an die Zeugen, er möchte sich nicht auf die politische Prozessführung Hausners einlassen; die Richter, Juden deutscher Herkunft, müssen deshalb das Prozess-Geschehen selbst in die Hand nehmen und verkörpern unterschiedliche Rollen.

Die Aufzeichnungen wurden für "Ein Spezialist" digital bearbeitet, nur am Anfang sieht man eine kurze Szene auf 35mm-Film, die daran erinnert, dass es sich um Archivmaterial handelt. Der Film will aber, so Sivan, ein "Angriff aufs Archiv" sein, und den Schwarz-Weiß-Bildern ist nicht anzusehen, dass sie vor fast vierzig Jahren entstanden sind. Dafür wurden alle Register der elektronischen Bearbeitung gezogen; wenn Eichmann sich z. B. während einer Zeugenaussage Notizen macht, ist das Geräusch des übers Papier kratzenden Stifts laut hörbar. Musik und Geräusche werden wie im konventionellen Spielfilm zur Unterstützung der Bildaussage verwandt. Der Gerichtssaal ist durch den Zusammenschnitt als Raum zu erkennen; durch die Bearbeitung entsteht der Eindruck, es habe Kameraschwenks gegeben.

Gerade diese filmische Banalisierung, in der Eichmann zum Darsteller von Eichmann wird, will Arendts These beglaubigen - und die Zeitlosigkeit der "Banalität des Bösen" behaupten. "Eichmann war ein Manager in einer modernen Verwaltung. Hätte er den Auftrag gehabt, das Briefmarkenwesen zu verwalten, hätte er auch das getan", erklärt Sivan. Schließlich habe Eichmann immer nur das getan, was man von ihm verlangte, ob in Wien, Berlin oder Jerusalem. "Ein Antisemit war Eichmann sicher - aber nicht mehr und nicht weniger als alle anderen in Deutschland zu dieser Zeit auch." Zum "politischen Kriminellen" sei Eichmann nicht wegen seiner verbrecherischen Absichten geworden, sondern weil er gehorcht habe.

Auf die Frage, ob damit nicht die Selbstdarstellung vieler angeklagter Nazis bruchlos übernommen wird, antwortet Sivan, er wisse nicht, wie man herausfinden wolle, wo die Selbstinszenierung beginnt. "Gerade bei Eichmann fällt schließlich auf, dass er tatsächlich immer das sagt, was von ihm erwartet wird. Das gilt auch für das Interview mit dem holländischen SS-Mann Willem Sassen, das Mitte der fünfziger Jahre in Argentinien geführt wurde, und in dem sich Eichmann als begeisterter Nazi gibt. Sofort nach seiner Entführung 1960 begann er, mit den israelischen Stellen zu kooperieren."

Götz Aly kritisierte in der Berliner Zeitung genau diese Darstellung, die Eichmann auf den Beamten reduziert. Als er nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach Wien kommt, organisierte er die grausame Vertreibung; aus dieser Zeit, so Aly, sei z.B. bezeugt, dass Eichmann persönlich einen jüdischen Funktionär ohrfeigte. Das passt nicht zusammen mit dem Bild, das Eichmann von sich selbst produziert und das im Film reproduziert wird. Danach hat Eichmann sich stark gemacht für die Auswanderung der Juden und war nach dem Beginn der Vernichtung ohne jede Begeisterung dabei. Der Versuch, Eichmann zu banalisieren, schlägt ins Gegenteil um und arbeitet der Ikonisierung zu: indem Eichmann nur noch allgemein für die "Moderne" und das "Expertentum" steht.

Sivan begreift diesen Ansatz jedoch als Versuch der "Repolitisierung" der Auseinandersetzung um Verantwortung und Gehorsam. Der positive Bezugspunkt für diese Verallgemeinerung sind für ihn die Menschenrechte. Sivans Filme beschäftigen sich mit der israelischen Besatzungspolitik, mit der politischen Funktion der Erinnerung für Israel, aber auch mit dem Genozid in Ruanda. Es gehe ihm, so Sivan, nicht um den Holocaust, sondern allgemein um "das Verbrechen in der Moderne" und dessen Genese.

Dass der Film dennoch gelungen ist, weil aus der Banalisierung Eichmanns nicht die Banalisierung des Holocaust wird, liegt an einer Dramaturgie, die den Angeklagten in seiner unbestreitbaren bürokratischen Erbärmlichkeit zeigt. Selbstverständlich fehlen auch nicht die komisch-absurden Momente, etwa wenn Eichmann dreimal hintereinander ein Detail einer Zeugenaussage berichtigen will und Staatsanwalt Hausner dazwischenfährt und sagt: "Mir ist klar, dass Ihre Äußerungen automatisch sind." In dieser vordergründigen Leichtigkeit denunziert der Film - entgegen seiner Intention - Eichmann als den Spezialisten.

"Ein Spezialist". F 1999, B/R: Rony Brauman/ Eyal Sivan. Bereits angelaufen