Trade Wars, Episode IX

Die Welthandelsorganisation WTO trifft sich in der ersten Dezember-Woche in Seattle. Dort soll die Millennium-Round neue Regeln für den globalisierten Kapitalismus finden.

Das Urteil war eindeutig: Die Entwicklungsländer sind die Verlierer der Globalisierung, die Industriestaaten die Gewinner. Das schrieb die UN-Organisation für Handel und Entwicklung (Unctad) in ihren diesjährigen Bericht. Einen wesentlichen Grund für die ungleiche Entwicklung sieht die Unctad im Protektionismus der Industrieländer.

Handelshindernisse beim Import von einfachen Gütern, insbesondere im Agrarbereich, nähmen den südlichen Ländern Einnahme-Möglichkeiten in Höhe von jährlich 700 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Diese Summe ist zehnmal höher als der Schuldenerlass für die ärmsten Entwicklungsländer, der im September 1999 mit großem Getöse bei der Jahrestagung von IWF und Weltbank verabschiedet wurde.

Auch die so genannten Schwellenländer, vor allem aber die Agrarexport-Staaten, sehen das so. Ihre Produkte seien billiger und damit konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt, doch - so der Vorwurf - die Globalisierung verlaufe einseitig. Während die Märkte in den Ländern des Südens sich auf Grund der Bestimmungen der Welthandelsorganisation (WTO) mehr und mehr für industrielle Waren, Dienstleistungen und Kapitalströme zu öffnen haben, finden die Industriestaaten immer wieder neue Argumente, um ihre Agrar-, Textil- oder Schwerindustrie zu subventionieren oder durch Einfuhrbeschränkungen zu schützen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die vom 30. November bis zum 3. Dezember in Seattle (USA) stattfindende Ministerratstagung (WTO) besondere Bedeutung. Sie bildet den Auftakt für die zunächst auf drei Jahre angelegte Millennium-Round der WTO. Zweck des umfassenden Verhandlungsprozesses ist es, die Regeln für das Welthandelssystem den neuen Bedingungen des globalisierten Kapitalismus anzugleichen.

Die WTO-Verhandlungsrunde ist - nicht anders als ihre acht Vorgänger im Rahmen des Gatt - von komplizierten Interessenkonstellationen geprägt. Zwar steht die WTO klar für die Freihandelsdoktrin, doch praktisch versuchen alle Staaten und Staatengruppen, Liberalisierungen nur in jenen Produktions- und Dienstleistungssektoren zuzulassen, in denen sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind.

Die besten Chancen in diesem manchmal offenen, manchmal versteckten "Spiel" von Druck und Zugeständnissen haben natürlich die großen Handelsmächte. Sie organisieren sich in verschiedenen exklusiven Gremien wie der EU oder der G7-Gruppe, um im Vorfeld der offiziellen Verhandlungen interne Konflikte auszuräumen und ihre Position zu stärken. Andererseits wurden die Konflikte um den Bananenhandel oder den Export hormonpräparierten Rindfleischs aus den USA in die EU offen über die WTO-Gremien ausgetragen - inklusive Sanktionen und Strafzölle.

Handelskrieg mit zivilen Mitteln

Die WTO lediglich als Ort der Verschwörung von mächtigen Staaten zu interpretieren, hinter denen wiederum bloß deren große Konzerne stehen, geht an der Realität vorbei. Schließlich versuchen auch weniger bedeutsame Staaten - in manchen Fällen durchaus erfolgreich -, sich über die WTO Zutritt zu bislang verschlossenen Märkten beispielsweise in der EU zu verschaffen.

Unstrittig ist aber, dass die WTO der bedeutendste und dynamischste institutionelle Ausdruck des gegenwärtigen globalen Kapitalismus ist, der durch das Wechselspiel von Liberalisierung und (verstecktem) Protektionismus, von Konkurrenz und Konzentration geprägt ist. Die WTO ist das Terrain, auf dem der globale Standortkrieg mit zivilen Mitteln ausgetragen wird.

Dieser Krieg darf jedoch nicht mit den heißen Handelskriegen vergangener Zeiten gleichgesetzt werden. Der entscheidende Unterschied neben der Wahl der Waffen ist, dass es bei den WTO-Verhandlungen trotz aller teilweise konträren Interessenlagen zu Einigungen und Zugeständnissen kommen wird.

Denn die globale Hegemonie des derzeitigen neoliberalen Typus von kapitalistischer Ökonomie und Vergesellschaftung ist nahezu unangefochten, und so wird keine der verhandelnden Regierungen - die einem komplexen Wechselspiel von Zwang und Konsens unterliegen - aus dem WTO-System ausscheren, auch wenn sie ihre Partikularinteressen nicht voll verwirklichen kann.

Vor diesem Hintergrund ist die WTO nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Ursache globaler gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu interpretieren, die sich durch ideologische wie materielle Hegemonie des neoliberalen Lagers, durch die historisch gewachsene Asymmetrie zwischen Nord und Süd und durch ungleiche Geschlechterverhältnisse auszeichnen. Es ist daher nicht nur für das Nord-Süd-Verhältnis von größter Bedeutung, welche Auswirkungen das neoliberale Regime der WTO auf die einzelnen Gesellschaften hat.

Die acht bisherigen Verhandlungsrunden im Rahmen des Gatt (Allgemeines Zoll und Handelsabkommen) haben sich stark auf den Handel mit Industriegütern bezogen. Bei der Millennium-Round der WTO dürfte sich das Interesse besonders auf die Bereiche Agrarhandel, Dienstleistungen und Investitionen richten. Während die Liberalisierung des Agrarmarktes insbesondere von der "Cairns-Gruppe", einem Zusammenschluss wichtiger Agrarexporteure, vorangetrieben wird, drängen in den anderen beiden Sektoren vor allem die Länder mit starkem Banken- und Versicherungsgewerbe auf globale Handelsfreiheit.

Die diversen Unterabkommen und Einzelverträge des Gatt, die die WTO-Politik bestimmen, sind also zunächst gesondert zu betrachten: Das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats), der Finanzsektor, das Agrar-Abkommen und die Regelungen des Patentrechts (Trips).

Ungleicher Wettbewerb im Agrarbereich

Die Auseinandersetzungen um die Landwirtschaft machen die internen Widersprüche der Freihandelsideologie besonders deutlich. Als Ergebnis der Uruguay-Runde des Gatt war den Staaten der Europäischen Union zwar eine Übergangsfrist zur Umstrukturierung eingeräumt worden, sie wurden jedoch verpflichtet, Exportsubventionen und Einfuhrzölle abzubauen. Intern hat die EU mit der Agenda 2000 reagiert. Demnach werden Produktsubventionen abgebaut, auf Umwegen jedoch gleich wieder neue vergeben. Künftig sollen nicht mehr direkt die Preise für Agrarprodukte gestützt und hochgehalten werden, sondern die Landwirte erhalten Zuschüsse für Flächenbewirtschaftung. Die Preise können durch diese indirekte Subventionierung gesenkt werden, schließlich sollen landwirtschaftliche Produkte aus der EU auch preislich konkurrenzfähig für den Weltmarkt werden. Die Nebenerwerbslandwirtschaft wird durch die Flächenbewirtschaftungszuschüsse zum Prinzip.

Während die osteuropäische, lateinamerikanische oder asiatische Konkurrenz mit dem Verkauf von Agrargütern ihr Auskommen sichern muss, bleiben den EU-Landwirten - wie auch den US-Farmern - Spielräume wegen verdeckter Subventionen. Der ungleiche Wettbewerb wird fortgesetzt, die neuen indirekten Subventionen gelten allerdings nicht mehr als von der WTO sanktioniertes Handelshemmnis.

Trips für den Weltmarkt

Das WTO-Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trips) trat bereits 1995 in Kraft. Aber erst nach und nach wird das Abkommen in der nationalen Gesetzgebung der Vertragsstaaten auch umgesetzt. Das weltweite Patentrecht ist dabei mehr als eine Angleichung der jeweiligen nationalen Gesetze. Es umfasst nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens. Besonders umstritten ist die Möglichkeit für Wissenschaftler und Unternehmen, gentechnische Patente anerkennen zu lassen. Damit wird den Entschlüsslern und Manipulateuren genetischer Informationen das Recht zugestanden, auch über die ökonomische Verwertung des genetisch entschlüsselten "Lebens" zu verfügen.

Vor allem Unternehmen aus den Industriestaaten haben inzwischen Patente auf Saatgut, Mais-, Weizen- und Reissorten, Soja und Früchte, genetisch veränderte Weinreben, Tabak- und Heilpflanzen, aber auch auf Bakterien und natürliche Pflanzenschutzmittel. Obwohl 90 Prozent der biologischen Ressourcen aus den Ländern des Südens kommen, besitzen Unternehmen aus den Industriestaaten 97 Prozent aller Saatgut-Patente. Das Recht auf die globale Vermarktung verspricht gigantische Gewinne.

Global gegen Freihandel

Nicht nur die Verhandlungsdelegationen wärmen sich für die kommende Runde auf, auch im Lager der WTO-Gegner wird die Debatte hitziger. Die von der letztjährigen Kampagne gegen das MAI (Multilaterales Abkommen über Investitionen) bekannten Argumentationsmuster erleben dabei fröhliche Urständ. So will das dem internationalen Bündnis peoples global action (PGA) nahestehende radikale Spektrum der Freihandelsgegner das "globale Ausbeutungs- und Herrschaftssystem demaskieren" und die WTO ersatzlos abschaffen. Für den 30. November wird zu einem "Globalen Aktionstag" aufgerufen, der die "Menschen aufrütteln (soll), sich emanzipatorisch zu mobilisieren, statt alles zu schlucken, was uns PolitikerInnen, Großindustrie etc. als Wohltat für die Menschheit auftischen". Insbesondere in Seattle sind von der PGA und befreundeten Gruppen Großdemos und direkte Aktionen gegen das WTO-Treffen geplant (Infos dazu unter www.agp.org und come.to).

Auf der anderen Seite stehen die NGOs (Nichtregierungsorganisationen), die sich für die Reformierung der WTO und insbesondere für die Aufnahme von Sozial- und Umweltstandards in das WTO-Regelwerk aussprechen. So fordern beispielsweise die im Forum Umwelt und Entwicklung vertretenen deutschen NGOs aus dem entwicklungspolitischen Bereich, zukünftig die Möglichkeit einer handelspolitischen Ungleichbehandlung von Produktionsverfahren in der WTO zu verankern, die derzeit äußerst restriktiv gehandhabt wird. Damit soll verhindert werden, dass umweltschonende Produktionsmethoden gegenüber kostengünstigeren umweltschädigenden benachteiligt werden.

Süd-NGOs gegen Sozialklausel

Doch die Aufnahme von Sozial- und Umweltklauseln in die WTO wird nicht nur von den radikalen Freihandelsgegnern als zu reformistisch und systemstabilisierend abgelehnt, sondern auch von KritikerInnen aus dem Süden. So verabschiedete unlängst eine Gruppe von "Intellektuellen und NGOs aus der Dritten Welt" um die Wissenschaftler Jagdish Bhagwati und Walden Bello ein Manifest, in dem sie vor den protektionistischen Wirkungen solcher Klauseln warnen.

Für sie sind Umwelt- und Sozialstandards nur ein vorgeschobenes Mittel der Industriestaaten und ihrer Lobbys, um sich die unerwünschte Konkurrenz aus den Entwicklungsländern mit ihren prekären sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen vom Leibe zu halten. Sie prangern die doppelte Moral der Klauselbefürworter aus dem Norden an, die sich über Kinderarbeit in Bangla Desh erregen, zugleich aber über die Todesstrafe für jugendliche Straftäter in den USA schweigen.

Die genannten Klauselgegner sehen die Position der Entwicklungsländer am ehesten durch eine "wirkliche" Freihandelspolitik gestärkt, weil sie die bisherige Benachteiligung der Entwicklungsländer aufhebe und allen Teilnehmern Vorteile verschaffe. Für letzteres müssen sich die Klauselgegner den Vorwurf gefallen lassen, der Behauptung vom allgemeinen Wohlfahrtsgewinn durch Freihandel aufgesessen zu sein.

Regulation der Armut

Das Spektrum der NGOs streitet schon seit geraumer Zeit nicht mehr um die grundlegende Analyse und Kritik kapitalistischer Produktions- und (Welt-)Handelsweisen, sondern orientiert sich am politisch (vermeintlich) Machbaren. Der NGO-Streit zwischen Nord und Süd unterscheidet sich dabei nur noch unwesentlich von dem zwischen Staatsvertretern aus Industrie- und Entwicklungsländern: Freihandel contra Protektionismus, Liberalismus contra Klauseln im Weltmarkt.

Dabei wird übersehen, dass beide Varianten kapitalistischer Ökonomie sich fast schon zyklisch abwechseln und in gewisser Weise auch ergänzen. Die eher nachfrageorientierte Politik staatlicher Regulation kann zeitweise die Produktion ankurbeln, führt jedoch zu dauerhaft steigenden Produktionskosten durch Steuern, Zölle oder Lohnnebenkosten. Der Rückzug des Staates, wie ihn Neoliberale fordern, bedingt andererseits Preis- und Handelskämpfe und dadurch billige Ware. Nur führt die dadurch beschleunigte Rationalisierung zu verschärfter Arbeitslosigkeit und Armut - in der Logik kapitalistischer Produktion demzufolge auch zu Nachfragerückgang.

Die derzeitige Diskussion um Sozial- und Umweltklauseln auch innerhalb der WTO wird von (neo-)keynesianischen Ökonomen und von manchen NGOs als Zeichen gedeutet, dass künftig wieder stärker regulative Aspekte in der Welthandelspolitik berücksichtigt werden. Die Wahl sozialdemokratischer Regierungen in Europa und zuletzt in Argentinien und Uruguay seien Ausdruck dafür, dass die neoliberale Freihandelsideologie an ihre Akzeptanz-Grenzen gestoßen sei. Doch nicht nur die europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten richten ihre Politik weniger am Prinzip des Sozial- als vielmehr an dem des Wettbewerbsstaats aus, auch die südamerikanischen sozialistischen Wahlsieger haben eine Fortsetzung der von ihren liberalen Vorgängern eingeleiteten Weltmarktöffnung angekündigt.