Alternative Lebensformen

Beamte und Videos

Morgens, halb zehn in Kreuzberg: Die Polizei rückt aus, eine Lasterhöhle zu schließen: die Videothek "Videodrom". Die Exekutionsbehörden - Sittenpolizei und Wirtschaftsamt - zeigen sich hochmotiviert, schließlich haben sie eine wichtige Mission: den Schutz moralischer Grundwerte. Verdacht auf Verbreitung von Gewalt verherrlichenden Inhalten, heißt es im Durchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft.

Ihre Ausbeute kann sich sehen lassen. Bei der knapp fünfstündigen Durchsuchung im "Videodrom" und den Privatwohnungen der Betreiber Ines Ruf und Karsten Rodemann finden die Beamten tatsächlich, was sie suchen: Videos. "Shakespeare in Love", "Halloween H20", "Leon, der Profi", "Wild at Heart" von David Lynch, Fassbinders "American Soldier" und "Clockwork Orange" von Stanley Kubrick lassen sie mitgehen - ohne Entleiher-Ausweis freilich. Mit dieser Ausbeute geben sie sich aber noch nicht zufrieden. Großes Interesse zeigen sie insbesondere für Filme, bei denen normalerweise des Bildungsbürgers Galle hochkocht: Splatter- und Horrorfilme - den moralisch Schutzbefehlenden seit jeher ein Dorn im Auge.

Und die wollen sie jetzt wohl einfach behalten, ein Beamter des Wirtschaftsamtes jedenfalls hofft, "dass dieser Laden nie wieder geöffnet wird". Also auch Computer und die gesamte Kundenkartei lassen die Ermittler mitgehen, die Räume werden versiegelt, das Telefon abgeklemmt.

Schon seit Jahren sind die Behörden äußerst interessiert am "Videodrom" in der Mittenwalder Straße 11. Mit seinen 13 000 Titeln (fast alle in Originalfassung) bietet die Videothek Filme aus allen erdenklichen Genres, die es sonst in Berlin eher selten gibt: von US-amerikanischen Independents über französische Filmkunst, Hongkong-Action, Splatter, Cartoons, Dokumentationen bis hin zu Sexploitation und Standard-Unterhaltungsware aus Hollywood, außerdem ausführliche Filmografien von mehr als 100 der bedeutendsten Regisseure. Das "Videodrom" ist die umfassendste Original Language-Videothek Deutschlands und eine der bestbestückten weltweit. Da haben auch ab und zu mal Beamte reingeschaut - in moralischer Mission natürlich nur -, um das Verleihprogramm auf eventuelle Gewalt verherrlichende Filme hin zu überprüfen und diese dann zu beschlagnahmen. Aber obwohl das "Videodrom" mitunter Filme verlieh, bevor die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften sie überhaupt zu Gesicht bekam, sind die Betreiber Ruf und Rodemann immer peinlich genau darauf bedacht, keine Filme in ihr Programm zu nehmen, die laut Beschluss der Bundesprüfstelle auf der Liste der verbotenen Filme standen.

Die durchsuchenden Polizisten jedenfalls scheinen mit den vielen ausländischen Filmen auch nicht klarzukommen und nehmen daher lieber ein Video zu viel als eines zu wenig mit. Und auch sonst waren sie übereifrig: Der Durchsuchungsbefehl ist nämlich nur für die Räumlichkeiten des Verleihs in der Mittenwalder Straße ausgestellt worden - nicht aber für die Verkaufsräume, die sich zwar im selben Eckgebäude befinden, aber die Adresse Fürbringerstraße 24 haben. Damit war die Anordnung zumindest unvollständig. Weg sind die Videos trotzdem.