Ruhm und Reue

Die Deutschen tun sich nicht schwer mit ihrer Geschichte, aber sie haben es sich auch nicht leicht gemacht. Einsichten einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zur »medialen Instrumentalisierung der Geschichte«.

Christoph Stölzl erzählte eine Anekdote: Vor vielen Jahren habe eine italienische Historikerin, die der Besitz einer prächtigen Villa von der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei ebenso wenig abhielt wie umgekehrt die Mitgliedschaft vom Besitz, sich darüber gewundert, dass die Deutschen immer noch am Dritten Reich laborierten. In Italien habe man das faschistische Regime gestürzt, die Schuldigen aufgehängt, und seitdem sei die Sache erledigt, man rede nicht mehr davon. Die Deutschen aber könnten sich über ihre Vergangenheit überhaupt nicht mehr beruhigen, und das verstehe sie nicht.

Da eine Anekdote angekündigt war, durfte gelacht werden. Es fragte sich nur, worüber. Wenn einer Historikerin der Unterschied von italienischem und deutschem Faschismus entfällt, der für die Juden Europas immerhin den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte, und zugleich die Tatsache, dass in Deutschland das Regime eben nicht gestürzt und kein Schuldiger aufgehängt wurde, jedenfalls nicht von den Deutschen, dann ist das eigentlich nicht so lustig. Deshalb lachte das Publikum einer Podiumsdiskussion zur »medialen Instrumentalisierung von Geschichte«, die in der vergangenen Woche von der Berliner Filiale der Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet wurde, lieber über sich selbst: Ja, so sind wir Deutschen halt! Immer so selbstkritisch und übertrieben gewissenhaft, dass wir uns heute noch über Verfehlungen streiten, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen und die andere Völker längst vom Tisch gewischt hätten.

Roderich Reifenrath, der Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, fand sich alsbald auf verlorenem Posten, den zu verteidigen er denn auch keine besonderen Anstrengungen unternahm: Von der Nazizeit werde seit den späten sechziger Jahren deshalb so ausgiebig gesprochen, weil sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten so hartnäckig verschwiegen worden sei. Mit dieser Behauptung hatte er bloß einmal mehr »hervorgekramt, was zum knöchern sedimentierten Überzeugungsbestand eines jeden guten deutschen Linken gehört« (FAZ), und die übrigen Gesprächsteilnehmer verbündeten sich nun, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.

Horst Möller, der Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte und Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, hielt ihm entgegen, die Legende von der Verdrängung sei eine interessengeleitete vergangenheitspolitische Manipulation. Der Nationalsozialismus sei zu keiner Zeit »de-thematisiert« worden, und zwar schon deshalb nicht, weil niemand je das NS-Regime habe verteidigen wollen. »Sehr faktenreich« (Berliner Zeitung) bewies Möller, dass kein historisches Thema ausführlicher diskutiert worden sei als das Dritte Reich, heute wie vor fünfzig Jahren. Schon in seiner ersten Regierungserklärung habe Adenauer die Deutschen ermuntert, ihre jüngste Geschichte auszuleuchten und kritisch zu bearbeiten.

Adenauer - ein Pionier der Vergangenheitsbewältigung? Das wäre allerdings eine Neuigkeit gewesen. Leider nimmt es Professor Möller, der sich als Kritiker der Wehrmachtsausstellung hervorgetan hat, mit den historischen Quellen nicht immer genau. Die Regierungserklärung vom 20. September 1949 taugt nämlich zum Beleg des Gegenteils dessen, was Möller behauptet, sie ist ein beeindruckendes Exempel für die Rhetorik des Verschweigens. Adenauer beklagte das Unrecht, das Deutschen widerfuhr, namentlich den Kriegsgefangenen und den Vertriebenen, er bekräftigte den Anspruch auf die ehemals deutschen Gebiete jenseits der Oder und sprach von der Nazizeit nur einmal: Er freute sich, dass sie vorüber war.

»Niemand kann bei uns, wie das im nationalsozialistischen Reich der Fall war und wie es jetzt noch in weiten Teilen Deutschlands, in der Ostzone, zu unserem Bedauern der Fall ist, durch Geheime Staatspolizei oder ähnliche Einrichtungen der Freiheit und des Lebens beraubt werden. Diese Güter: Rechtsschutz, Schutz der persönlichen Freiheit, die wir lange Jahre nicht besaßen, sind so kostbar, daß wir trotz allem, was uns noch fehlt, uns darüber freuen müssen, daß wir diese Persönlichkeitsrechte wieder besitzen.«

Wie aber war fortan mit der Vergangenheit umzugehen und welche Lehren waren aus ihr zu ziehen? »Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden. Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nicht-Einwandfreien. Diese Unterscheidung muß baldigst verschwinden. Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muß. Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden (...)« .

Am Ende seiner Rede wandte Adenauer sich an Professor Möllers Zunft: »Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, in dieser Stunde mit besonderem Dank der Vereinigten Staaten von Nordamerika gedenken. Ich glaube nicht, daß jemals in der Geschichte ein siegreiches Land es versucht hat, dem besiegten Land in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun. Wir glauben, meine Damen und Herren, daß eine spätere Geschichtsschreibung dieses Verhalten der Vereinigten Staaten als eine größere Tat bezeichnen wird als seine Anstrengungen im Kriege.«

Obwohl also der Nationalsozialismus früh und erschöpfend bewältigt wurde, stellte Möller schließlich die Prognose, das »Skandalon« werde wohl bleiben und auch die Frage: »Warum haben sich unsere Eltern von diesem Regime einspannen lassen?«

Die Befriedigung über das Ende der Wehrmachtsausstellung hätte man an diesem Abend in Eimern aus dem Haus der Adenauer-Stiftung tragen können. Christoph Stölzl übte sich in wissenschaftlicher Methodik: Fotos seien keine historischen Quellen, sondern Kunst. Aufklären könne allein das Wort. Was für ein Glück also, dass Stölzl am folgenden Tag das Kulturressort der Welt übernahm, er hätte sein Deutsches Historisches Museum wohl mangels geeigneter Ausstellungsobjekte schließen müssen. Vor einigen Gegenständen müsse die Geschichtswissenschaft überhaupt kapitulieren, denn eine »Verdichtung von Aktion«, wie sie an der Ostfront sich ergeben habe, sei nicht darstellbar und kaum zu erforschen. Im Übrigen erlaubte die Haager Landkriegsordnung, »believe it or not«, die Exekution von Partisanen.

1945 wussten die Deutschen alles. Sie wussten, dass Ungeheuerliches geschehen war, und brauchten deshalb nicht darüber zu reden. Sie wussten auch, behauptete Stölzl, von der Gerechtigkeit des »Strafgerichts«, das über sie kam. Weil sie aber bis heute von ihrer Schuld nicht schweigen können, sind sie anderen Völkern moralisch überlegen. Stölzl ermahnte die Skandinavier, endlich die Zeit der Besatzung und der Kollaboration aufzuarbeiten, und vergaß dabei ganz, dass diese Aufarbeitung schon in den ersten Nachkriegsjahren stattfand und dass dabei einige Hundert Todesurteile vollstreckt wurden.

»Wir Deutschen tun uns schwer mit unserer jüngsten Vergangenheit«, hieß es in der Einladung zu diesem erbaulichen Abend. Norbert Lammert, der kulturpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, widersprach: »Wir tun uns nicht schwer, sondern wir machen es uns nicht leicht.« Wir redeten, wenn wir von der Geschichte reden, immer nur vom Nationalsozialismus. Die »auffällige Gründlichkeit, Liebe und Konsequenz«, mit der wir uns gerade diesem kurzen Zeitabschnitt widmeten, könne auch zum Überdruss führen. Und dann kam ihm eine Möglichkeit in den Sinn, die Lammert einmal formulieren wollte, ohne sie zu bewerten: Es sei doch nicht ganz undenkbar, dass nach dem Bau des Holocaust-Mahnmals manche Menschen das Bedürfnis verspüren könnten, nun auch der deutschen Wiedervereinigung ein Denkmal zu errichten.

Das Feuilleton der Welt, so viel darf man wohl heute schon ahnen, würde eine solche Idee nicht rundweg zurückweisen. Denn Stölzl zitierte den französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan: »Ruhm und Reue halten die Nation zusammen.« In Sachen Reue tue es den Deutschen niemand gleich, und die Revolution von 1989 habe ihren Ruhm beträchtlich vermehrt. Wenn sie nun noch ein paar Kulturstücke vollbrächten, müsste sich irgendwann wieder eine vernünftige Balance von Ruhm und Reue einstellen.