Eine Armee für alle Fälle

Die Europäische Union schafft sich eine schlagkräftige Eingreiftruppe. Die USA reagieren irritiert.

Es gibt keinerlei Probleme mehr zwischen China und Russland, nur noch Freundschaft und Zusammenarbeit«, versprach Chinas Parlamentspräsident Li Peng dem aus Moskau angereisten politischen Poltergeist Boris Jelzin während seines zweitägigen Besuchs vergangene Woche in Peking. »Kein Staat hat das Recht, sich einzumischen, wenn ein souveränes Land Terroristen und Separatisten bekämpft«, legte Staats- und Parteichef Jiang Zemin mit Blick auf den Tschetschenienkrieg demonstrativ nach.

Vergessen sind jahrzehntelange Grenzstreitigkeiten. Chinesen und Russen besiegelten plötzlich einen strategischen Pakt, der sich vor allem gegen die weltpolitische Arroganz der US-Amerikaner richtet. Zu frech hatte Washington Chinesen und Russen mit ihrem Veto im Kosovo-Konflikt ignoriert. Jelzin, mehr tot als lebendig, erinnerte US-Präsident William Clinton bei der Gelegenheit gleich an die russischen Atomwaffen-Arsenale, die mit der neuen Topol-M-Rakete gerade modernisiert werden. Töne, die mehr als ein Jahrzehnt nicht mehr zu hören waren.

Sie sind fatal, die Spätfolgen des technikverliebten Nato-Feldzugs gegen Jugoslawien. Die Fernwirkungen dieses Regionalkonfliktes lassen neue Kräfteverhältnisse entstehen, die die Welt unberechenbarer machen. Auch die Europäer geben sich plötzlich selbstbewusster gegenüber den US-Amerikanern. Zu den Folgen zählt auch der Ende letzter Woche von 15 Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Helsinki gefasste Beschluss, sich eine eigene europäische Eingreiftruppe aufzubauen.

Zu oft hatten die US-Amerikaner während des Kosovo-Krieges auf die militärischen Schwächen der Nato-Partner in Europa hingewiesen. »Spätestens im Jahr 2003 müssen die Mitgliedsstaaten bei EU-geführten Operationen in der Lage sein, innerhalb von 60 Tagen 50 000 bis 60 000 Personen zu verlegen«, heißt es nun im Abschlussdokument von Helsinki.

Diese Streitmacht soll für Missionen der Friedenserzwingung, die Durchsetzung eines Waffenstillstands oder auch die Rettung von Europäern aus Krisengebieten gewappnet sein und einen Einsatz »in und um Europa herum« zur Not auch über zwei Jahre völlig unabhängig von den US-Amerikanern führen können.

Das bedeutet, dass die Truppen im Kriegs- oder Krisengebiet auch regelmäßig abgelöst werden können. Dafür müssten 100 000 bis 150 000 weitere Soldaten Gewehr bei Fuß stehen. In Brüssel soll Anfang 2000 ein Politik- und Sicherheitskomitee der EU sowie ein Militärkomitee, sprich: ein Generalstab, eingerichtet werden.

Ziemlich konkret lagen diese Pläne schon im November beim französisch-britischen und deutsch-französischen Gipfel in Paris vor. Da galt das Papier »Militärische Organe, Planung und operative Führung durch die Europäische Union« noch als geheim. Es enthielt die Einigung von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien auf die künftigen militärischen Strukturen in der EU. Die Idee selbst soll vom britischen Regierungschef Tony Blair stammen. Am 6. Dezember hatten die 15 EU-Außenminister in Brüssel ihre Militärpapiere für den Helsinki-Gipfel festgeklopft. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass es nicht um die Aufstellung einer stehenden europäischen Armee gehen wird. Jeder Mitgliedsstaat soll bestimmte Einheiten bereitstellen, die zu einer Eingreiftruppe zusammengestellt werden können. Im Wesentlichen wird es sich hier allerdings um Einheiten und Verbände handeln, die auch bei Nato-Missionen zum Einsatz kommen würden.

Nachdem die US-Amerikaner auf dem Jubiläums-Gipfel in Washington mit ihrer »Defence Capabilities Initiative« stärkeres militärisches Engagement und Aufstockung der Militärhaushalte der Nato-Partner in Europa eingefordert hatten, klingen ihnen die Antworten jetzt zu europäisch. So fordern die USA Konsultationen und Mitsprache in der Aufbauphase der EU-Eingreiftruppe sowie formale Beziehungen der Truppe mit der Nato.

Das wurde von den Briten verweigert. Trotzdem sandte Washington Tipps über den Teich nach Helsinki. Die EU soll etwa beim Aufbau ihrer Eingreiftruppe Nato-Länder wie Island, Norwegen und die Türkei trotz fehlender EU-Mitgliedschaft politisch und militärisch an dem Projekt beteiligen.

James Rubin, Sprecher des US-Außenamtes, bemerkte schon Anfang Dezember, dass sich die USA von der Idee einer allein europäisch geführten Eingreiftruppe »nicht bedroht« fühlen. »Wir unterstützen im Allgemeinen eine europäische Verteidigung, welche die transatlantischen Beziehungen vertieft«, signalisierte Rubin. Kurz, die Stärkung der europäischen Verteidigung darf nicht auf Kosten der Nato gehen. Vize-Außenminister Strobe Talbott unterstrich das bei einer Rede in London mit den Worten: »Wir möchten keine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität erleben, die erst in der Nato entsteht, dann aus der Nato herauswächst und sich dann von der Nato wegbewegt.« Eine solche Konkurrenzsituation wäre untragbar.

Europäer wie der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi beruhigen, dass die EU sich ja lediglich Instrumente schafft, »um dort handeln zu können, wo die Nato als Pakt nicht engagiert ist«. Wo also die US-Amerikaner nicht eingreifen wollen. Doch schon der geplante Umbau des Eurokorps zum Kern der EU-Eingreiftruppe - eine Idee, die auch Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping unterstützt - bestätigt die US-Amerikaner in ihren Ängsten. Schließlich besteht die 55 000-Mann-Streitmacht aus Belgiern, Franzosen, Spaniern, Luxemburgern und 18 000 deutschen Soldaten - aber eben keinem Amerikaner.

Auch das deutsch-niederländische Korps soll in diese Richtung weiterentwickelt werden. »Wir hätten gerne eine zuverlässige Versicherung, dass das Eurokorps der Nato weiter zur Verfügung steht«, moserte ein US-Diplomat - der Entwicklung hinterher.

Derweil werden von deutscher Seite militärische Veränderungen bereits sehr praktisch angeschoben. So schlug der deutsche Verteidigungsminister schon in den Wochen vor Helsinki die Schaffung eines europäischen Lufttransportkommandos vor. Schließlich hänge die Fähigkeit zum Krisenmanagement ganz erheblich von einer »schnellen strategischen Verlegefähigkeit von Streitkräften ab«.

Als Vorbild könnte hier der in Geilenkirchen stationierte multinational besetzte Verband mit Awacs-Radar-Flugzeugen dienen. Praktischerweise sollen sich an dem Transportkommando jene europäischen Länder beteiligen, die auch das zukünftige neue Transportflugzeug A400M der Airbus Military Company beschaffen. Gut 300 Stück wollen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, Belgien und die Türkei ordern. Scharping könnte zudem durch diesen Streich seine Beschaffungskosten von schätzungsweise zehn Milliarden Mark angesichts leerer Kassen drastisch senken. Für US-Luftfahrtkonzerne und -Diplomaten wird hier nichts zu holen sein.

Selbst das von den USA während des Kosovo-Krieges monierte Manko bei so genannten Präzisionswaffen wird die Bundeswehr bis zur Aufstellung der EU-Eingreiftruppe beseitigt haben. In Zusammenarbeit mit den Schweden wird die Dasa bis zum Jahr 2002 Lenkflugkörper vom Typ Taurus für Eurofighter und Tornado liefern können. Diese Abstandswaffe kann aus 350 Kilometern Entfernung auf Punktziele wie Bunker abgefeuert werden. Damit kann der Luftkrieg in Europa künftig wieder hausgemacht stattfinden.