Penser in progress

»In Verteidigung der Gesellschaft« - Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France zu Macht und Krieg.

Michel Foucault hat es hierzulande nicht leicht gehabt. Die deutsche Intelligenz hatte mit diesem Autor besondere Probleme, und die hat sie noch immer. Während in Deutschland Foucaults Werk weitgehend ignoriert oder trivialisiert wurde, erreichte er in der englischsprachigen Welt eine Popularität wie kein anderer zeitgenössischer Theoretiker - ein intellektueller Popstar, dessen Werk besonders innerhalb der US-amerikanischen Literaturwissenschaft für Bewegung sorgte.

Zwar gab es in den achtziger Jahren einige namhafte deutsche Intellektuelle - in Konfrontation zu Foucaults Denken standen immerhin Jürgen Habermas und Axel Honneth -, die sich Foucaults sprunghaftem Denken kampfbereit in den Weg stellten. Denkt man die Intelligenz verräumlicht, handelte es sich hierbei in Wolfgang Eßbachs Worten um einen »Verteidigungsraum, in dem Gefährdungen gesichtet und zügig identifiziert werden«.

Aber insbesondere die hiesigen Historiker haben ihn schlicht ignoriert. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass Foucault seit 1970 einen Lehrstuhl für »Geschichte der Denksysteme« am renommierten Collège de France innehatte. Auf zwei Bereiche bezog sich die Lehre: »Auf die Philosophie, die man danach befragen muss, wie es möglich ist, dass das Denken eine Geschichte hat, und die Geschichte, die man danach befragen muss, welche konkrete Gestalt die verschiedenen Formen des Denkens annehmen können.«

Es steht zu vermuten, dass sowohl Foucaults ungewöhnliche Methodologie, seine »archäologische« und »genealogische« Vorgehensweise als auch die thematischen Resultate und die Themen seiner Studien selbst gerade die Geschichtswissenschaft in mehrfacher Hinsicht provozieren mussten. Quittiert hat sie seine Herausforderung mit jahrzehntelangem Schweigen. Freilich, von den Zinnen konservativer Wachtürme aus gesehen, musste ein Denken, das sich, ähnlich wie das von Sartre oder Canguilhem, anschickte, alltäglichste Vorstellungen und Verhaltensweisen zu untersuchen und die Geschichte der Produktion von Ideen gegenüber der Ideengeschichte bevorzugt, auf Widerstand oder Schweigen stoßen.

Vermutlich wird sich an dieser Situation auch mit der ersten Veröffentlichung der großen Vorlesungen Foucaults kaum etwas ändern, obwohl es hier eine Reihe neuer Aspekte zu entdecken gibt. Der Zeitraum der elf Vorlesungen erstreckt sich auf das erste Quartal des Jahres 1976. Es ist die Zeit der »Analyse der Macht«. Nach der etwas verwirrenden »Schlacht der Wissen gegen die Machteffekte«, die Foucault etwa in »Wahnsinn und Gesellschaft« und in »Ordnung der Dinge« ins Werk setzte, ging es ihm jetzt stärker als zuvor um die Macht und ihre Effekte selbst. 1978 sollte er den Machtbegriff zu Gunsten der Konzepte »Regieren« und »Regierung« fallenlassen; 1976 aber befand sich Foucaults Denken auf dem Höhepunkt seines Erfolgs: Seine berühmte Untersuchung »Überwachen und Strafen« war im Jahr zuvor in Frankreich erschienen, das Konzept der »Bio-Macht« bereits ausgearbeitet, und der erste Band einer Geschichte der Sexualität »Der Wille zum Wissen« sollte noch im selben Jahr der Vorlesungen herauskommen.

Wer nun meint, nur weil das Erkenntnisraster Foucaults aus dieser Zeit hinlänglich bekannt sei, würde nichts Neues hinzukommen, der irrt. Fraglos, seine Methode ist bekannt: Noch zu Beginn der Vorlesungsreihe betont Foucault, dass die Machtanalyse der Konzeption der »juridischen Konstitution der Souveränität« keinesfalls auf den Leim gehen dürfe; zudem müsse Macht in »Begriffen von Kräfteverhältnissen« gedacht werden. Dieselbe »physikalistische Rhetorik« also, mit der vor allem die deutsche Soziologie seit eh und je ihre Schwierigkeiten hatte.

Schon in der dritten Vorlesung aber wird deutlich, dass es Foucault um etwas anderes gehen wird als um die Bekräftigung von bereits Gesagtem, und, was gleichfalls neu ist, in der Vorlesungsreihe hat das Gesagte selbst oder das Sprechen Foucaults eine neue, bis dahin unbekannte Form und Funktion: Zeichnete sich Foucault in seinen Monografien durch einen Stil aus, der, mit bestechender Leidenschaft, beinahe suggestive Wirkungen beim Lesen seiner Bücher erzeugt und darüber nicht die Präzision und Schärfe des genauen Bezeichnens einbüßt - man könnte auch sagen, Foucaults Stil selbst hatte schon etwas Subversives -, so stellt sich beim Lesen von »In Verteidigung der Gesellschaft« ein anderes Gefühl ein. Man spürt förmlich, wie der Prozess des Erklärens Foucaults eigenem Sich-etwas-Erklären dient.

Es ist ein Denken in progress, ein gebrochenes, Umwege gehendes und bisweilen sich verrennendes Denken, das sich stets um Klarheit bemüht, sie aber nicht immer zu erreichen vermag. Hinzu kommt ein persönlicher Ton, der in der Anrede der Zuhörenden verankert ist. Die an das Publikum gerichteten Entschuldigungen, wenn ein Gedanke mal weniger klar wurde, als der Vortragende hoffte, erzeugen eine ungewohnte Nähe, die dennoch Distanz wahrt: Die Vehemenz des Stils seiner Monografien ist hier einer Vorsicht des Vortrags gewichen, der sich nicht wirklich in Sicherheit weiß, da er immer noch entsteht.

Zu Beginn der dritten Vorlesung stellt Foucault die Eingangsfrage für die weiteren Vorlesungen. Er fragt sich, ob der Krieg für eine Analyse der Macht- und Herrschaftsverhältnisse taugt. Er fragt, inwiefern das Machtverhältnis »im Grunde ein Verhältnis der Konfrontation, des Todeskampfes« sei. Foucault, dessen wesentliche Arbeit gewissermaßen schon immer darin bestand, Bibliotheken und Archive nach Spuren verschütteter Wissensformen, nach oppositionellen und unterdrückten Diskursen zu durchforsten, befindet sich hier, mehr in der Rolle des Archäologen als in der eines Genealogen, auf der Suche nach Diskursen, welche die Form eines Vorläufers oder Spiegels seiner eigenen Machtanalyse abgeben könnten. Auf dem Weg, einen weiteren Ankerpunkt für den von ihm ins Spiel gebrachten Begriff der Macht zu finden, begibt er sich in diskursive Bereiche, die sich als verschüttete Traditionen abendländischen Denkens bezeichnen lassen.

Doch beginnt seine Analyse zunächst mit einer erhellenden Dekonstruktion des Hobbesschen Gesellschaftskonzepts. Er zeigt, wie Hobbes einen für den Naturzustand von Gesellschaften konstatierten »Krieg aller gegen alle« nur ins Feld führt, um aus der Angst der Individuen, die diesen Kriegszustand in Permanenz mehr als alles auf der Welt fürchten, ihren Willen in einen staatsgründenden Gesellschaftsvertrag ableiten zu können. Die Tatsache, dass Hobbes weniger ubiquitäre Gewalt als vielmehr ein andauerndes Angstverhältnis beschwört, das es im Sinne des souveränen Staates auszunutzen gilt, zeigt, dass gerade dieses Modell für eine Analyse der Macht aus dem Kampf oder Krieg nicht taugt.

Es gelingt ihm, unterhalb der Schichten dominanteren Wissens ein verschüttetes Diskursfeld freizulegen, in dem die Entstehung staatlicher Macht nicht auf das juridisch-philosophische Modell der Souveränität zurückgeht, mit Hilfe dessen man bis dahin die Beziehung zwischen Volk und Monarch denken konnte, sondern auf das Faktum vehementer Auseinandersetzungen, Schlachten und unbestimmter Kriege, die das Innere der Gesellschaften kennzeichneten. Dieser politisch-historische Diskurs, der den Krieg zur dauerhaften Grundlage aller Machtinstitutionen erklärt, entfaltet sich entlang der großen politischen Kämpfe um staatliche Macht im England des 17. Jahrhunderts, später im Frankreich Ludwigs des XIV.

Der Krieg oder allgemeiner die blutigen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Interessengruppen und Völkern sind für diesen Diskurs der wahre »Geburtshelfer der Staaten«. Der Rassenkriegs-Diskurs, wie Foucault ihn - freilich den Begriff »Rasse« nicht im soziobiologischen Sinne verstehend - mitunter nennt, weist einige erstaunliche Eigenschaften auf: Er entfaltet sich ganz und gar in der historischen Dimension. Er verzichtet darüber hinaus nicht nur darauf, den Verlauf der Geschichte an einem idealen Vernunftprinzip zu eichen, er ist selbst parteiisch, unwillig, sich für seine Perspektive zu rechtfertigen. Er setzt auf die unbestimmte Bewegung der Geschichte und ist zugleich »dunkel kritisch« und »intensiv mythisch«. Die Idee der Möglichkeit eines neutralen Staates kann für den Diskurs des politischen Historismus nur Fiktion und Farce sein.

Von diesem Punkt aus wird klar, warum Philosophie, Humanwissenschaften und Geschichte den politischen Historismus zum Feind erklärten und seinen Diskurs zum Verschwinden brachten: Das historische Wissen stößt nur auf unbestimmte Kriege, auf Auseinandersetzungen, die nur vorläufig entschieden werden können, niemals auf Natur, Recht, Ordnung und Frieden. So müssen auch Wissen und Wahrheit von der Seite der Gewalt, der Unordnung und des Krieges her gedacht werden, da sie niemals der Ordnung und dem Frieden entstammen. Und so ergibt sich für Foucault die erste Aufgabe, Historist zu sein und die unumgängliche Beziehung zwischen dem in der Geschichte erzählten Krieg und der von diesem Krieg durchzogenen Geschichte zu analysieren.

Foucault, dessen eigene Machtanalyse immer die Funktion einer konfrontativen Geschichtsschreibung hatte, in der Kräfte sich reiben und aufeinanderprallen, will, daran kann kein Zweifel bestehen, diesen gegen-geschichtlichen Diskurs des politischen Historismus als Vorläufer der eigenen Machtanalyse verstanden wissen. Unproblematisch ist die Beziehung, die Foucault zum politischen Historismus unterhält, allerdings nicht: Ohne gleich das Gespenst des »politischen Dezisionismus« auf den Plan rufen zu wollen, kann die Lesart der rehabilitierten Diskursformation ihrer Möglichkeit nach immerhin eine von Rechtsaußen sein.

Am Ende der Lektüre von »In Verteidigung der Gesellschaft« ist man schlauer und dümmer als zuvor. Foucault hat im Zuge dieser ersten veröffentlichten Vorlesungen sein Themenspektrum - die unzähligen Exkurse zur Dialektik, zum Antisemitismus und zum Staatsrassismus einmal außen vorgelassen - erheblich erweitert. Das normative Politikverständnis ist am Ende selbst denunziert. Foucaults Liebe zum historischen Detail und sein beharrliches Suchen nach anderen Möglichkeiten des Denkens und Deutens führt ein weiteres Mal scheinbar Unzusammenhängendes ineinander oder lässt es auseinander hervorgehen.

Doch wie schon so oft sind im Zuge dieses fortschreitenden Denkens neue Unklarheiten aufgetaucht und eine vermeintlich sichere Bewegung in diesem Diskursuniversum schlägt erneut in einen Taumel der Verunsicherung um.

Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999, 313 S., DM 48