Auferstanden aus Ruinen

Im zweiten Tschetschenien-Krieg bekämpft Russland das Produkt des ersten: Den islamistischen Warlord Shamil Bassajew.

Was jetzt geschieht, wäre auch ohne mich geschehen. Es wurde seit über einem Jahr vorbereitet. Unglücklicherweise hat die Kampagne in Dagestan, deren wahre Geschichte noch erzählt werden muss, ein Feuer angeheizt, das bereits brannte. Ich wurde der Sündenbock.« In einer Erklärung vom 28. Oktober weist der islamistische Warlord Shamil Bassajew jede Verantwortung für den Tschetschenien-Krieg von sich. Mit den Angriffen seiner Milizen auf Dörfer in Dagestan im August und September hatte die Eskalation begonnen.

Die Erklärung wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Einiges spricht dafür, dass die russische Führung tatsächlich seit längerem eine Invasion vorbereitete und nur noch auf den geeigneten Vorwand wartete. Wenn Bassajew das wusste, warum lieferte er dann diesen Vorwand? Mit der Führung in Grosny war die Aktion nicht abgesprochen, Vizepräsident Wacha Arsanow jedenfalls erklärte: »Wenn wir mit Russland fertig sind, werden wir aufklären, was in Dagestan wirklich geschah - vor einem Scharia-Gericht.«

Seit dem Frühsommer hatten die Spannungen zugenommen. Die islamistischen Angriffe in benachbarten Regionen und die russischen Luftangriffe auf tatsächliche oder vermeintliche islamistische Stellungen wurden häufiger und heftiger. Der russische Innenminister kündigte Anfang Juli »Präventivschläge« gegen Tschetschenien an, dessen Vertreter mit der Drohung konterten, den Krieg nach Russland zu tragen. Auf beiden Seiten hatten sich die Kriegstreiber durchgesetzt.

Dabei hatte es in den beiden Jahren nach dem Ende des ersten Tschetschenien-Krieges (1994 bis 1996) noch so ausgesehen, als käme es zu einer Einigung. Der wichtigste Streitpunkt schien geklärt, als 1997 ein Abkommen über den Ölt-Transport durch Tschetschenien geschlossen wurde. Die Pipeline musste jedoch im Frühjahr 1999 nach Sabotage-Aktionen stillgelegt werden, das Öl wurde nun auf Tanklastwagen durch Dagestan transportiert. Durch Dagestan führen auch zwei Routen geplanter Pipelines, die Tschetschenien umgehen. Bassajews Offensive musste als Drohung gegen diese Ausweichrouten verstanden werden.

Der Kosovo-Krieg, vor allem aber das wachsende US-Engagement im Kaukasus und Zentralasien und die Debatte um einen Nato-Beitritt Georgiens hatten in der russischen Oligarchie jene Kräfte gestärkt, die unklare Machtverhältnisse an der Südgrenze nicht länger tolerieren wollten. Die harte Linie Russlands gegenüber Tschetschenien geht einher mit der Wiederaufnahme der Unterstützung für separatistische Bewegungen in Georgien und verstärkten Bemühungen, die kaukasischen und zentralasiatischen Staaten wieder enger an Russland zu binden.

In Tschetschenien hatten sich die islamistischen Warlords endgültig gegen die Fraktion des Präsidenten Aslan Maschadow durchgesetzt. Schritt für Schritt musste Maschadow sich der »Islamisierung« beugen. Anfang Juli stimmte er der Gründung eines »Sicherheitsrates« zu, der Tschetschenien zu einem »islamischen Staat« machen sollte - faktisch eine Kapitulation vor den Warlords. Einen Monat, nachdem sich Bassajew die Dominanz in der tschetschenischen Führung gesichert hatte, startete er sein Dagestan-Abenteuer.

Das geradezu perfekte Zusammenspiel der Kriegstreiber auf beiden Seiten nährt Verschwörungstheorien. Im georgischen Bürgerkrieg 1992/93 noch hatte Bassajew mit Russland zusammengearbeitet. Russland wollte Georgien schwächen und unterstützte deshalb die Separatisten in Abchasien; Bassajew hoffte, die überwiegend muslimischen Abchasier würden sich der damals von der tschetschenischen Führung angestrebten kaukasischen Föderation anschließen. So kämpfte sein tschetschenisches Bataillon mit russischen Waffen.

Auch später riss die Verbindung zur russischen Oligarchie nie ganz ab. Einige besonders zwielichtige Mitglieder von Jelzins »Familie« wie der Tycoon Boris Beresowski standen nachweislich in Kontakt mit Bassajew, dessen Milizen sich nach 1996 überwiegend durch Überfälle, Schmuggel und Entführungen finanzierten. Belegt sind allein geschäftliche Verbindungen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass hier bewusst die Warlords gegen die Maschadow-Fraktion gestärkt werden sollten. Weitergehende Vermutungen, etwa über eine Zusammenarbeit bei den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Russland, sind reine Spekulation.

Das gilt auch für die Vermutung, Bassajew könne als Söldner einer ausländischen Macht gehandelt haben. Tschetschenien hat strategische Bedeutung für die Erschließung der zentralasiatischen Öl- und Erdgas-Vorräte, und einer Reihe von Staaten kann ein Interesse unterstellt werden, dort oder allgemein im Kaukasus Unruhe zu stiften.

Die USA wollen Russland und den Iran vom Pipeline-Geschäft ausschließen und den russischen Einfluss im Kaukasus und in Zentralasien zurückdrängen. Eine Destabilisierung Russlands ist jedoch nicht im Interesse der USA, und die Eskalation in Tschetschenien gefährdet auch Georgien und damit die Pipeline Baku-Ceyhan, deren Bau jüngst in Istanbul beschlossen wurde. So kam denn aus dem Weißen Haus zum Tschetschenien-Krieg auch nur Theaterdonner. Von allen westlichen Staaten zeigen die USA die geringste Neigung, Sanktionen zu verhängen.

Die Erschließung der zentralasiatischen Ölfelder würde die Bedeutung der Opec mindern, somit könnten die islamischen Opec-Staaten versucht sein, ihren Einfluss zu nutzen, um diese Erschließung zu verhindern. Wenn alle Routen durch den Kaukasus versperrt sind, würde das die Verhandlungsposition der drei mit Sanktionen belegten Staaten Pakistan, Afghanistan und Iran verbessern, durch die alternative Routen führen. Für das iranische Regime aber haben gute Beziehungen zu Russland absolute Priorität. Deshalb äußerte sich die Organisation der Islamischen Konferenz, gegenwärtig unter iranischer Präsidentschaft, bisher nur dezent zum Tschetschenien-Krieg.

Etwas ernster muss die Möglichkeit einer saudischen oder pakistanischen Einflussnahme genommen werden. Saudi-Arabien war führend unter jenen islamischen Staaten, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Moscheen und religiöse Bildungseinrichtungen finanzierten, Geistliche entsandten und Religionsstudenten ausbildeten. Unterstützt werden offiziell registrierte, in der Regel regimetreue Organisationen und Einrichtungen. Nachdem sich in der Vergangenheit immer wieder von Saudi-Arabien unterstützte islamistische Gruppen gegen das Königshaus gewandt haben, ist man ein wenig vorsichtiger geworden.

Bassajew hätte es wohl auch nicht nötig gehabt, sich mühselig ein paar Millionen zusammen zu rauben, wenn er nur beim saudischen König die Hand aufhalten müsste. Dass die Islamisten im Kaukasus und Zentralasien von russischer Seite pauschal als Wahhabiten bezeichnet werden - der Wahhabismus ist die fundamentalistische Staatsdoktrin Saudi-Arabiens -, geht wohl darauf zurück, dass viele zum ersten Mal aus saudischen Quellen mit fundamentalistischen Ideen konfrontiert wurden.

Auch im Falle Pakistans, das wie Saudi-Arabien eine lange Tradition in der Instrumentalisierung islamistischer Gruppen für außenpolitische Ziele hat, gibt es keine Hinweise auf die Unterstützung militanter Gruppen. Vermutlich einige Hundert ausländische Freiwillige kämpfen in Bassajews Milizen, bei ihrer Rekrutierung dürfte das im Westen mit Ussama Bin Laden identifizierte islamistische Netzwerk eine Rolle gespielt haben. Die Propaganda islamistischer Gruppen wie der Vereinigung der islamischen Ulema, die sich sicherlich gerne der Beteiligung am Heiligen Krieg in Tschetschenien rühmen würden, deutet jedoch nicht auf eine massive internationale Beteiligung hin.

Der Islamismus in Tschetschenien ist, wie in den anderen Regionen des Kaukasus und Zentralasiens auch, ein hausgemachtes Problem. Schon Anfang der achtziger Jahre hatte die Sowjetunion die Existenz islamistischer Gruppen eingestanden. Sie waren zunächst ein Nebenprodukt der Rückbesinnung auf nationale und religiöse Werte, die, teils unterstützt von der Bürokratie, Ende der siebziger Jahre begann. Als zehn Jahre später die starken Beschränkungen für religiöse Organisationen aufgehoben wurden, trat auch der Islam wieder an die Öffentlichkeit.

Im Untergrund hatten sich die traditionellen islamischen Bruderschaften halten können, gemeinsam mit der Mehrheit der Geistlichkeit bilden sie eine konservative bis fundamentalistische, aber in der Regel regimetreue Strömung. Der oppositionelle Islamismus konnte nur in Tadschikistan das herrschende Regime gefährden. Einflussreiche islamistische Gruppen gibt es in Dagestan, Tatarstan und Teilen Usbekistans, insgesamt aber dominieren Strömungen, die religiöse Ideologien mit ethnischem Nationalismus, häufig auch mit der Loyalität zu lokalen und Verwandtschaftsgruppen zusammen bringen.

Das gilt insbesondere für Russland. Sofort nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte sich der russische Staat mit der orthodoxen Kirche verbündet. Die islamischen Republiken der Föderation haben zum Teil recht weitgehende Autonomie-Rechte. Andererseits gibt es eine spürbare Diskriminierung der muslimischen Minderheit (zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung) und wachsenden Rassismus. Auch die ökonomische Krise, für die die russische Oligarchie mitverantwortlich gemacht wird, hat die Liebe zu Russland nicht gesteigert. Separatistische Strömungen sind bislang dennoch eine Minderheit.

Tschetschenien war eine Ausnahme. Dem ehrgeizigen General Dschochar Dudajew war es gelungen, die Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit zu gewinnen. Der Grad der politischen Organisierung blieb jedoch schwach, eine wirkliche Unabhängigkeitsbewegung entstand nie. Dudajew, der 1996 getötet wurde, strebte ebenso wie der 1997 zum Präsidenten gewählte Maschadow ein autoritäres Präsidialregime an, außenpolitisch suchten beide ein Bündnis mit dem Westen. Immerhin hat Tschetschenien eine säkulär-demokratische Verfassung, die in der Praxis allerdings nie wirksam wurde.

Der erste Tschetschenien-Krieg hatte die Wirtschaft zerstört und die Gesellschaft zerrüttet, die Feldkommandanten nutzten die Lage, um sich mit Hilfe ihrer Milizen Herrschaftsgebiete zu sichern. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 70 bis 80 Prozent, zwischen 1996 und 1999 verließ die Hälfte der Bevölkerung das Land. Um ihrer Herrschaft eine gewisse Legitimation zu geben, bedienten sich die Warlords islamistischer Ideologien, vermischt mit ethnischen Versatzstücken.

In einem 1995 geführten Interview erklärte Bassajew, das »russische Volk« - Bassajew bestand auf diesem Begriff - sei schuldig an den in Tschetschenien begangenen Verbrechen, da es nicht gegen sie protestiert habe. Er bekannte offen, Tschetschenen »sind mir wertvoller als andere«. Es sei undenkbar, so erläuterte er seinem erstaunten Interviewer eine halbe Stunde lang, dass eine Nation, die sich ein »monströses« Staatswappen ausgewählt habe, jemals moralischen und spirituellen Frieden finden könne. Der doppelköpfige Adler sei, da er in der Natur nicht vorkomme, ein gotteslästerliches Tier.

Es gibt auch im militanten Islamismus versiertere Ideologen. Wie die Taliban hat Bassajew keine politische Organisation aufgebaut und hält wenig von Programmen. Die informellen Strukturen seines Warlord-Regimes genügen ihm völlig. Die Einführung der Scharia äußerte sich vor allem in öffentlichen Hinrichtungen. Bekleidungsvorschriften für Frauen wurden verhängt, doch scheint der Tugend-Terror unter Bassajew weniger scharf zu sein als unter den Taliban. Vermutlich sieht Bassajew sich gezwungen, stärkere Rücksicht auf die gesellschaftlichen Traditionen zu nehmen.

Bei den Taliban findet sich zumindest noch eine rudimentäre religiöse Bildung, Bassajews Islamismus ist nur die ideologisch gefärbte Variante der Warlord-Herrschaft, die sich in zerrütteten Gesellschaften ausbreitet, in denen allein die Gewalt herrscht. Die zweite Zerstörung Tschetscheniens wird die Lage sicher nicht verbessern; wenn sich der Konflikt auf benachbarte russische Territorien oder Georgien ausbreitet, besteht sogar die Gefahr, dass neue Warlord-Gebiete entstehen.

Beim Kampf gegen die islamistischen Warlords, offiziell das einzige Kriegsziel, zeigt die russische Armee bislang keine Eile. Bassajew und die Milizen haben sich in den südtschetschenischen Bergen verschanzt, die russische Armee konzentriert sich auf die Sicherung der Pipeline durch die nordtschetschenische Ebene. Fällt Grosny, so ist diese Route unter Kontrolle. Ob es gelingt, sie gegen Sabotageaktionen zu sichern, ist eine andere Frage.

Die russische Armee hat aus dem ersten Tschetschenien-Krieg vor allem gelernt, jedem Vorstoß von Bodentruppen ein vernichtendes Bombardement vorausgehen zu lassen. Ob der langsame Vormarsch - die Einkreisung Grosnys dauerte mehr als zwei Monate - nur auf die vorsichtigere Strategie oder auch auf massiven Widerstand zurückzuführen ist, wird man wohl erst nach der Aufhebung der Nachrichtensperre beantworten können. Die russischen Verluste scheinen auch diesmal hoch zu sein, und die Truppenteile, die nicht vor Fernsehkameras kämpfen, sollen sich in einem erbärmlichen Zustand befinden. Wie im ersten Tschetschenien-Krieg gibt es statt des versprochenen schnellen Sieges eine langen Feldzug, dessen Ausgang ungewiss ist.

1996 hatte sich im Kreml eine gemäßigte Fraktion durchgesetzt, die eine Einigung einem langjährigen Guerilla-Krieg vorzog. Der russischen Armee war es nach verlustreichen Kämpfen gelungen, alle größeren Ortschaften in Tschetschenien zu besetzen. Sie wurde jedoch ständig attackiert; es erwies sich als unmöglich, die unzugänglichen Bergregionen zu kontrollieren. Wie die russischen Generäle dieses Problem lösen wollen, bleibt ihr Geheimnis.