Fischers Point of No Return

Deutschland nach dem Kosovo-Krieg: Mehr Menschenrecht, mehr Militär, mehr EU. Und vor allem: Weniger Nato und weniger Amerika.

Anfang Mai 1999, mitten im Krieg der Nato gegen Serbien, warnte der Philosoph Robert Spaemann in einem Beitrag für die FAZ, bewaffnete Interventionen mit der »Verteidigung von Werten« zu begründen. Und etwas später, während der Auseinandersetzung um die Lieferung eines Leopard-Testpanzers an die Türkei, polemisierte (ebenfalls in der FAZ) Konrad Adam mit Blick auf den Kosovo-Krieg gegen eine »Hypermoralisierung« der Politik: »Zur Zeit steht das Menschenrecht im Lernzielkatalog der deutschen Politik ganz obenan. Viele Rote und Grüne wollen es zum ersten und einzigen Kriterium deutscher Außenpolitik machen.«

Bundesaußenminister Joseph Fischer nahm solche publizistischen Bedenken so ernst, dass er sie in einer Grundsatzrede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 24. November in Berlin explizit zurückwies: Im Kosovo-Krieg sei es nicht nur um »Werte«, sondern »auch um Interessen« gegangen, z.B. um die »regionale Stabilität in Südosteuropa»; weder könne von »Hypermoralismus« noch von »menschenrechtlichem Missionarismus« die Rede sein. Für die künftigen Zielgebiete militärischer Missionen gebe es eine klare »europäische Präferenz«, schon aus Gründen »begrenzter Kapazitäten« und einer notwendigen »Selbstbeschränkung«. Allerdings dürfe der Begriff »Präferenz« keinesfalls so interpretiert werden, als sei damit ein humanitärer Einsatz in weiter entfernten Teilen der Welt ausgeschlossen.

Damit hatte Fischer - nicht zum ersten Mal - übersichtlich dargelegt, dass die auf globale Geltung angelegte Menschenrechtsnorm zwar eine weltweite Zuständigkeit Deutschlands begründet, diese Zuständigkeit aber erst aktiviert wird, wenn nationale Interessen berührt sind. Mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg wurde Deutschland erstmals dem entscheidenden Maßstab der Glaubwürdigkeit des Interventionswillens gerecht und schrieb sich offiziell als »Großmacht« (Spiegel) in die Staatenkonkurrenz ein.

Mit einer Besonderheit: Während etwa die Sieger des Zweiten Weltkriegs durchaus gewohnheitsmäßig auf egoistische »nationale Interessen« pochen, stellt die Berliner Regierung offiziell und in alter deutscher Tradition ihre außenpolitischen Ziele in den Rahmen eines idealistischen Dienstes an der gesamten Menschheit. In den Worten Fischers: »Man erwartet von uns eine grundsätzliche Bereitschaft zum Engagement für den Frieden und zur Verhinderung von humanitären Katastrophen, Völkermord und Vertreibung.« So formuliert Rot-Grün den selbst erteilten Auftrag, in der Sache handelt es sich um Unfug: Die USA erwarten, dass die Deutschen und die anderen Europäer nach Maßgabe Washingtons dazu beitragen, weltweit stabile Ausbeutungs- und Handelsverhältnisse zu erhalten.

Die Tatsache, dass Berlin die eigene weltpolitische Zuständigkeit quasi-religiös begründet, konstruiert einen fundamentalen Gegensatz zu den USA. Dieser wurde während des Kosovo-Krieges mehrfach in neuer Deutlichkeit zugespitzt, die eleganteste Version lieferte der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Rechtfertigung der Nato-Intervention: »Ein interessanter Unterschied im Verständnis der Menschenrechtspolitik zeichnet sich zwischen Amerikanern und Europäern ab. Die USA betreiben die globale Durchsetzung der Menschenrechte als die nationale Mission einer Weltmacht, die dieses Ziel unter den Prämissen der Machtpolitik verfolgt. Die meisten Regierungen der EU verstehen unter einer Politik der Menschenrechte eher ein Projekt einer durchgreifenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen, das die Parameter der Machtpolitik schon heute verändert.«

Zu Zeiten der Kohl-Regierung hatte man innerhalb der transatlantischen Wertegemeinschaft weniger weit auseinander gelegen. Die 1992 vom Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, formulierten und von Verteidigungminister Volker Rühe abgesegneten Verteidigungspolitischen Richtlinien sorgten innnerhalb der damaligen rot-grünen Opposition für große Empörung, gerade weil sie den Auftrag der Streitkräfte mit einem ordinären machtpolitischen Gestus beschrieben: Als »exportabhängige Industrienation« sei für Deutschland die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels« und der »ungehinderte Zugang zu Märkten und Rohstoffen« von höchster Bedeutung.

Die von Rot-Grün im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg ausformulierte Entgegensetzung von Machtpolitik und »Herrschaft des Rechts« (Fischer) findet in der aktuellen Forcierung der EU-Integration einen überzeugenden Ausdruck. Es geht hier um den Versuch der Konstituierung eines »Reiches« mit deutschem Zentrum, sein Vorzeichen ist die Zerstörung der republikanischen Idee und der republikanischen Strukturen. Nachdem Ost- und Südosteuropa in ethnisch definierte und volkswirtschaftlich ruinierte Fürstentümer parzelliert wurden (und noch werden), stehen deren Regenten auf EU-Gipfeln um die Gunst der Aufnahme an. Deren Erteilung folgt einem »Recht«, das die Zentralstaaten mit Deutschland an der Spitze von Gipfel zu Gipfel, von Vertrag zu Vertrag neu schöpfen. Quelle dieses Rechts ist der Bedarf der Zentrale. Eine Garantie, es in Anspruch zu nehmen, gibt es für Subordinierte nicht.

Wie weit die Rechtssetzung durch die EU bereits dem Prinzip der Vasallentreue verpflichtet ist, zeigt ein Skandal, der hierzulande deshalb nicht als solcher bemerkt werden konnte, weil hinter dem guten Zweck einer Maßnahme die Problematik ihrer Rechtsförmigkeit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen stets zurücktritt. Für den guten Zweck der Menschenrechte durfte im Kosovo-Krieg das Grundgesetz gebrochen werden; für den allgemein als gut anerkannten Zweck, die Republik Jugoslawien endgültig zu zerstören und an ihrer Stelle eine EU-konforme Regentschaft über die Region zu installieren, wurde eine neue Form der Boykott-Politik ins Recht gesetzt.

Anfang Oktober kündigte der deutsche Sozialdemokrat Bodo Hombach, Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, an, einer Reihe von serbischen Kommunen, die von der Milosevic-feindlichen Opposition verwaltet werden, aus EU-Mitteln finanzierte Sonderrationen an Heizöl zur Verfügung zu stellen. Die Lkw wurden vom serbischen Zoll blockiert, in den Zielorten kochte der Volkszorn gegen Milosevic hoch, in Nis demonstrierten mehr als zehntausend Anhänger der Opposition gegen die Blockade der Öl-Lieferung.

Die hiesige Presse hatte gegen die auf Bestechung und Erpressung beruhende EU-Patronage nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Missgunst des durch die Aktion attackierten jugoslawischen Präsidenten: »Auch jetzt hat er ohne Not die 14 Tanklastwagen mit dem Heizöl der EU blockiert. Er hätte den Brennstoff den oppositionellen Hochburgen gönnen sollen«, schrieb demonstrativ arglos die FR.

Ohne bei der EU Gehör zu finden, war gegen den offiziell so benannten Energie für Demokratie-Plan ausgerechnet und alleine die Uno eingeschritten, deren Kompetenzen die deutsche Außenpolitik offiziell gerne stärken möchte. Der UN-Koordinator für den Balkan, Carl Bildt, verlangte einen »breiteren Ansatz für humanitäre Hilfe in Serbien»; sollte die internationale Gemeinschaft nicht ihren moralischen Standards genügen, müsse ihr zu Recht vorgeworfen werden, mit zweierlei Maß zu messen. Diese Art des Maßnehmens ist allerdings kein Irrtum, sondern das Kennzeichen der von der deutschen Außenpolitik favorisierten Herrschaft des Rechts.

Neben einer beschleunigten Erweiterung und Formierung nach innen will die EU auf den Kosovo-Konflikt auch durch den forcierten Ausbau ihrer militärischen Mittel reagieren; durch die jüngsten Fusionen innerhalb der europäischen Rüstungsindustrie und wegen der beim Kölner Gipfel in Juni auf den Weg gebrachten, jetzt in Helsinki beschlossenen Aufstellung einer eigenen Eingreiftruppe mit allen strategischen Qualitäten soll die über die Nato vermittelte Hegemonie der USA ausgehebelt werden (Jungle World, 51/99). Die US-Regierung hat die EU mehrfach energisch davor gewarnt, eigene, von der Nato unabhängige militärische Entscheidungsstrukturen aufzubauen, etwa in Form eines von Frankreich favorisierten europäischen Generalstabes.

Ungeachtet der Großmäuligkeit US-kritischer Kommentatoren scheint das deutsche Establishment (noch) vor dem point of no return zurückzuschrecken. Allerdings kam eine Studie der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung jüngst zu dem Ergebnis, dass eine militärpolitische Abkopplung von den USA weniger eine Frage des Ob, sondern mehr des Wann sei: »Bevor deutsche Politik den Schritt über den Rubikon wagt, sollte die Frage der Finalität der europäischen Integration geklärt sein.«

Die Tragweite eines solchen Schrittes kommt exemplarisch in der Reaktion eines der entschiedensten Kritiker der US-Machtpolitik zum Vorschein. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein schrieb zwischen Kosovo-Krieg und November reihenweise verächtliche Kommentare über die Amerika-Hörigkeit der deutschen Außenpolitik.

Erst angesichts der Beschlussvorlage für den Helsinki-Gipfel, die EU-geführte Militäroperationen audrücklich »unbeschadet irgendwelcher Aktionen der Nato« ankündigte, wurde ihm mulmig. An dem »Sprengstoffpapier« habe Fischer Mitschuld, Deutschland stehe jetzt vor der Wahl zwischen »Pest und Cholera«. Augstein wählt die leisen Töne: »So aufdringlich die Vereinigten Staaten als einzige verbliebene Weltmacht überall auftreten: Die Nato zu unterlaufen, das dürfen wir (Ö) nicht einmal erwägen.« Der Rubikon ist ziemlich breit.