Sekt oder Sekten

Viele Propheten sitzen schon in Abschiebehaft, doch der Heilige Geist zeugt immer neue. Zum Millenniums-Wechsel wird es eng in Jerusalem.

Wenn die israelischen Sicherheitsbeamten am Ben-Gurion-Flughafen fragen: »Sind oder waren Sie je Mitglied einer messianischen Sekte?«, wenn Bibeln im Gepäck mehr Argwohn als alternative Reiseführer durchs arabische Palästina erregen, dann zeigt sich, wie ernst man hier den Jahrtausendwechsel nimmt. Mit der erwarteten christlichen Masseninvasion zur letzten Weihnachtsfeier des Jahrtausends wächst in Israel die Angst vor praktizierenden Apokalyptikern, Endzeitsekten und selbst ernannten Propheten. In diesen Wochen wirken christliche Devotionalien weit verdächtiger als ein arabischer Stempel im Pass.

Wieviele christliche Besucher über Weihnachten und Neujahr ins Heilige Land kommen werden, weiß niemand so genau. »Wir können mit einiger Sicherheit lediglich sagen, dass es voraussichtlich 2,8 bis 3,2 Millionen Millenniums-Touristen sein werden«, gab der zuständige Direktor des Tourismusministeriums bekannt. Der Inhaber eines Souvenir-Shops dagegen, dessen Laden an die Grabeskirche grenzt, erwartet nur zwei Millionen, das wisse er als CNN-Zuschauer aus informierten Kreisen.

Hier, in der Jerusalemer Altstadt, dem »heiligsten Quadratkilometer der Menschheit«, wie unser Reiseführer weiß, in der Grabeskirche, auf der Via Dolorosa und am Tempelberg, ist vom kommenden Jahrtausend-Ereignis noch wenig zu spüren. Nur das Warensortiment der Souvenir- und Devotionalienhändler antizipiert schon jetzt in Wort und Bild das große Spektakel. Selbst Weihnachtsmann-Mützen ziert inzwischen der 2000-Aufdruck. Neue Postkartenserien »Millennium 2000 in Jerusalem«, Baseball-Kappen mit der Aufschrift »Jesus 2000« auf dem Schirm und mit »Peace for 2000 from Jerusalem« bedruckte T-Shirts künden vom Kommenden. Shirts mit dem Spruch »My grandma went to Jerusalem and all I got was this lousy T-Shirt« sind wegen Inaktualität in den Keller verbannt.

Ob die Müllberge der Straßenhändler, die sonst zum Flair des in die Altstadt führenden Damaskus-Tores gehören, aus millenniaren Gründen oder zur Feier des islamischen Fastenmonats Ramadan, der am 8. Dezember begonnen hat, weggeräumt wurden, bleibt unklar. Sonst aber herrscht im Viertel weiter das übliche Treiben. Schenkt man allerdings berufenen Stellen im In- und Ausland Glauben, täuscht diese Ruhe, und Schlimmstes steht der Heiligen Stadt bevor. Presseberichten zufolge warnen der Mossad und das sektengeplagte FBI eindringlich vor religiösen Fanatikern, die dem Millennium über Gebühr Aufmerksamkeit schenken. Seit bald einem Jahr versucht die israelische Polizei, vor allem selbst erklärte Untergangspropheten und Mitglieder apokalyptischer Sekten aufzuspüren und auszuweisen, was ihr bisher auch in sechzig Fällen gelungen ist.

Vor allem eine Sekte aus Denver, die sich Concerned Christians nennt, beschäftigt seit Januar die israelischen und selbst die griechischen Behörden. Chef der Sekte ist ein Monte Kim Miller, der sich für einen der Endzeitproheten aus dem Buch Daniel hält und seit Jahren ankündigt, er werde an Weihnachten in den Straßen Jerusalems sterben, um dann christusgleich am dritten Tage aufzuerstehen. Seine Anhänger sind aufgerufen, ihm darin zu folgen.

Weniger die Angst vor dem kuriosen Massensterben hat die Israelis veranlasst, einen Teil der Sekte, der auf dem Ölberg in Höhlen wohnte, schon im Januar abzuschieben. Vielmehr gehören die Besorgten Christen zu den unzähligen äußerst militanten Endzeit-Fanatikern aus den USA, die an eine Verschwörung der UN glauben und den Endkampf zwischen Christus und den Kräften des Satans herbeisehnen, wobei der Teufel unter anderem in der US-amerikanischen Regierung verkörpert ist. Auf einem Tonband, das die israelische Polizei sicherstellte, fand sich eine Message Millers, in der er die USA als dragon kingdom verfluchte und ihr eine Bestrafung prophezeite, die doppelt so schlimm ausfallen werde wie die, die Japan mit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki erlebt habe. Clinton wird als Sendbote Satans bezeichnet, der für die Vermittlung des falschen Friedens zwischen Palästinensern und Israelis werde büßen müssen.

Vor allem sollen die Besorgten Christen darauf hinarbeiten, dass die Moscheen auf dem Tempelberg zum Millenniums-Wechsel in die Luft fliegen. Dies gilt als der sensibelste und gefährlichste Punkt des Endzeitfanatismus: Es wird befürchtet, dass die Sekte plant, die Al-Aqsa-Moschee zu zerstören. Auch einer so genannten Temple Group sowie einer Truppe namens House of Prayer Followers und anderen bisher wenig in Erscheinung getretenen Organisationen traut man dies zu.

Nach ihrer millenniarischen Lehre wird vor dem Kommen des Messias ein letztes Gefecht, Armaggeddon, stattfinden, in dem die Welt in Schutt und Asche gelegt wird. Bevor die Endzeit anbrechen könne, so will es angeblich das Buch Daniel, muss allerdings der Tempel wieder aufgebaut werden. Diese Vorstellung spukt schon seit Jahren in den Köpfen verschiedenster, vor allem US-amerikanischer Protestanten herum. Denn erst der Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem ermögliche es Jesus oder dem Antichristen oder Gog oder Magog oder allen zusammen, die Bühne zu betreten, um die Bösen ein für alle Mal reihenweise zu erschlagen und dann die allwährende Gerechtigkeit auf Erden zu implementieren.

Ganz einig über den genauen Ablauf des Weltendes sind sich die Militanten unter den Millenniums-Leuten allerdings auch nicht. Zumindest uns ist es, trotz der Lektüre unzähliger Prophezeiungen und Szenarien auf ihren Web-Seiten, nicht gelungen, ein verständliches Programm der zu erwartenden Ereignisse zusammenzustellen.

Die israelischen Sicherheitsdienste befürchten, dass nicht unbedingt ein prominentes Sektenmitglied, sondern irgendjemand unter den Millionen von verzückten Christen in der Altstadt mit der Umsetzung dieser Prophezeiungen ernst machen könnte. Angeblich existieren auch schon seit längerem enge Verbindungen zwischen ultraradikalen jüdischen Organisationen, die seit Jahren versuchen, die islamischen heiligen Stätten zu sprengen, und reichen protestantischen Sekten in den USA, die großzügig für dieses Unterfangen spenden. Deshalb jedenfalls steht eine speziell ausgebildete israelische Einheit, die aus Armee und dem Geheimdienst rekrutiert wurde, für die Weihnachtstage bereit, um den Tempelberg zu schützen und so ganz profan den Ausbruch »Heiliger Kriege« vermeiden zu helfen.

Aus Furcht vor eskalierenden Gewalttätigkeiten wurde selbst der harmlose Prophet Elijah gezwungen, endgültig seinen Koffer mit der Aufschrift »Jesus Is My Lord« zu packen. Jahrelang residierte der Gottesmann in einem Traveller-Hostel in der Altstadt, wanderte tagsüber mit knorrigem Stock durch die Gassen und predigte den vorbeiziehenden Massen. Für 1999 sagte er etwa eine große Trockenheit voraus, als Strafe dafür, dass Israel Gottes Wort missachtet und das dem Volke Israel verheißene Land an die Palästinenser abgetreten habe. Unermüdlich rief er zu Buße und Einkehr auf, dann werde auch das ersehnte Wasser - nach Hesekiel, 47 - unter dem Tempelplatz hervorbrechen.

Selbst die Intervention des Sonderbeauftragten einer israelischen Menschenrechtsorganisation für Propheten in Abschiebehaft half nicht. Dabei ist der rauschebärtige Elijah vermutlich ein ungefährlicher Spinner, der ohne das Millennium-Problem bis zu seinem Lebensabend durch die Gassen Jerusalems gegeistert wäre.

Im Fall von Elijah war das, was Spezialisten das »Jerusalem-Syndrom« nennen, zu einem Dauerzustand geworden. Leute besuchen eine der heiligen Stätten und fühlen sich hinterher urplötzlich als Reinkarnation irgendwelcher historischer Propheten oder Heiliger. »In der Regel tragen sie dann weiße togaähnliche Gewänder und singen religiöse Hymnen«, so beschreibt der im Herzog Memorial Hospital tätige Psychiater Dr. Barel den pathologischen Befund. »Das vergeht in der Regel nach spätestens einer Woche, dann ist es den Patienten meist ziemlich peinlich.«

Für härtere Fälle stehen seit langem Spezialkliniken zur Verfügung, jede monotheistische Religion hat eine, aber Christen treffe das Syndrom am häufigsten, so Barel. Sein Kollege Professor Eliezer Witzum befürchtet, dass vor dem Millennium-Bug die Zahl der vom Jerusalem-Syndrom Betroffenen rapide ansteigen werde, die »normalen« Fälle seien üblicherweise aber nicht gefährlich und vergleichsweise schnell kurierbar.

Unter www.jerusalemsyndrome.com haben besorgte Israelis eine eigene Homepage eingerichtet, in der über das Millennium, die Weltreligionen und den Messianismus aufgeklärt werden soll. Ihr Motto lautet: »We do not believe the apocalypse is imminent. Become informed and stop the potential for violence in Jerusalem.«

Gegen Gewalt ist auch der »Chronist«, wie er sich selber nennt. Erst bei Anbruch der Dunkelheit erscheint er auf dem Ölberg, um von dort die Heilige Stadt zu überblicken. Schließlich ist es in dieser Zeit angeraten, sich als Apokalyptiker nicht zu häufig in der Öffentlichkeit sehen zu lassen, immerhin droht die Gefahr einer Ausweisung. Der Chronist verachtet Sekten, die an Mord, Totschlag, Krieg und Selbstmord glauben, sie hingen einer falschen Lehre an. Und dann schildert uns der Holländer - mit Blick auf die goldene Kuppel des Felsendomes - seine Version des kommenden Millenniums. Jesus nämlich sei gar nicht am Kreuz gestorben, die Überlieferung sei falsch; in Wirklichkeit habe man ihn nur an einen Schandpfahl gebunden.

Ohne zu wissen, dass er der Auserwählte sei, habe Jesus seitdem ein ganz normales Leben als Erdenbürger geführt. Erst jetzt, genauer: vor acht Jahren, wurde er von einer Geheimgesellschaft in Kenntnis gesetzt, dass er der Messias sei und am 25. Dezember in Jerusalem die Welt erlösen solle. Diese Geheimgesellschaft, als deren »Chronist« der Mann auf dem Ölberg sich bezeichnet, bestehe aus 20 000 bis 30 000 Menschen, den »Eingeweihten«, die übers Internet miteinander kommunizierten und die Weltregierung vorbereiteten.

Überhaupt, Computer und Flugzeuge sind Geschenke Gottes an die Menschheit, damit diese Auserwählten, die über die ganze Welt verstreut leben, den Tag X vorbereiten können. Denn längst hätten sie alle notwendigen Programme und Maßnahmen für eine perfekte und gottgewollte Regierung ausgearbeitet, unter anderem sei die Einführung eines Renten-, Gesundheits- und Sozialsystems vorbereitet worden, das alles Elend abschaffen werde. Dies alles liegt nun vor und wartet auf den Tag seiner Umsetzung. Zudem habe diese Gruppe den Film »Die Truman Show« in Auftrag gegeben, in dem die Situation des Messias geschildert wird, auf den, ohne sein Wissen, die Blicke der Welt gerichtet seien.

Der 25. Dezember, und nicht, wie andere annehmen, der 24. Dezember, wird der Tag sein, an dem der Messias von den Eingeweihten nach Jerusalem gebracht und öffentlich geprüft werde, um der Menschheit zu zeigen, dass er ER sei. »Und dann?« fragen wir. »Wenn die Menschheit sich vom Messias und der Weltregierung überzeugen lässt, dann kommt das Goldene Zeitalter, eine ewig währende Zeit ohne Not, Kriege, Hunger, aber voller Liebe.« Und wenn sich die Menschheit, stur und verblendet, wie sie sich die letzten 2 000 Jahre gezeigt hat, nicht überzeugen lässt? Dann, ja, dann geschehe nichts und alles gehe seinen gewohnten schlechten Gang weiter. Dann könne man nichts machen, aber er hoffe, dass alles sich zum Guten wende.

Im Internet-Café allerdings scheitert ein Versuch, Kontakt mit den Eingeweihten aufzunehmen, um ein weiteres Interview zu führen; sie agieren ganz im Geheimen und sind mit keiner Suchmaschine auffindbar. Stattdessen finden wir einen »Millennial Prophecy Report«, der selbst Kommunisten nicht ohne Bewegung lässt und ebenfalls ein ganz unblutiges Ende dieser verkommenen Welt verspricht: »The central idea of the millennium legend is that the Earth will be transformed into what it was in the beginning: a place of perfect harmony and justice, free from all suffering and strife. Often this involves the return of a hero, who established things the way they are in The First Place. Since that time, things have gone awry, to the extent that the world is so corrupt, poisoned, unjust, and full of suffering that it is no longer fit to live in. It must be restored.«

Am Ort des zukünftigen Geschehens, in den Basar-Gassen bei der Grabeskirche, geht vorerst alles seinen gewohnten Gang. Pausenlos werden einem 3-D-Bildchen mit dem Gekreuzigten angeboten, auf denen ER die Augen leidvoll öffnet und wieder schließt. Von den Händlern hier fürchtet sich niemand so richtig vor dem Jahrtausend-Wechsel. Ja, man erwarte viele Touristen, das sei gut fürs Geschäft, und man habe vorgesorgt, Verkaufsengpässe fürchte man nicht, die Lager seien voll. Nur ein älterer Bazari wird weltanschaulich: »So schlimm, wie die Weltlage momentan ist, auch der viele Verkehr und außerdem die Umweltverschmutzung - da könnte schon allerhand passieren am Millennium.« Wundern würde es ihn nicht. Was allerdings passieren könnte, wisse er nicht.

Schlaflose Nächte bereitet den meisten Leuten der Jahrtausendwechsel offensichtlich nicht. Ausnahme: Michael Dor vom israelischen Gesundheitsministerium. In der Zeitschrift Jerusalem Report klagte er, dass er schon seit längerem an Schlaflosigkeit leide. Und jeder hier dürfte das nachvollziehen können, denn der Mann hat keinen leichten Job. Er ist für die Sicherheit der Christen in den Heiligen Stätten verantwortlich. Bis zu 20 000 Gläubige werden pro Gottesdienst in der Grabeskirche erwartet, einem Gemäuer, das schon bei 1 000 Besuchern völlig überfüllt wirkt. Da ein großer Teil der Inneneinrichtung dieser heiligsten Stätte des Christentums vertäfelt ist und Christen an ihren Feiertagen eine besondere Affinität zu Kerzen haben, fürchtet Dor den Ausbruch von Bränden.

Ein zusätzliches Problem ist der fehlende Notausgang. Seit mindestens 500 Jahren währt ein Streit zwischen den Konfessionen, die sich die Grabeskirche teilen, also Griechisch-Orthodoxe, Katholiken, Armenier, Kopten und Äthiopier, über den Bau eines Notausgangs in dem Gebäude. Bis heute konnte keine Lösung gefunden werden und wird wohl bis zum nächsten Millennium auch nicht mehr gefunden, sodass die Kirche lediglich einen Zugang hat, der zudem noch auf einen engen Hof führt. Sollte ein Feuer oder eine Panik ausbrechen, »trampeln sich die Leute da tot«, fürchtet Dor. Überhaupt sei völlig unklar, wie die Altstadt und andere Ziele des Millenniums-Tourismus, z.B. Nazareth und Bethlehem, solche Menschenmassen verkraften sollen.

Eine Zeitungskommentatorin bezweifelt grundsätzlich, ob sich die zuständigen palästinensischen und israelischen Behörden ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt haben. Zwar scheint in Jesus' Geburtsort die halbe Bevölkerung ununterbrochen zu mauern, zu pinseln und zu putzen, während Jungs, die so aussehen, als wäre vor einigen Jahren noch die Intensivierung der Intifada ihre Hauptbeschäftigung gewesen, vor der Geburtskiche manierlich Steinplatten verlegen. Aber schon bei der Zufahrt nach Bethlehem hapert es.

An der israelisch-palästinensischen »Grenze« kommen die Bauarbeiten, die offensichtlich unter dem Motto: »Unser Checkpoint soll schöner werden« stehen, nicht so recht voran. In Ha'aretz wurde deshalb schon der Verdacht ausgesprochen, dass die bisherige Bauleistung der Israelis - eine einspurige staubige Behelfs-Piste, über die sich der Verkehr momentan quält - wohl zum millenniaren Dauerzustand werde. Da in Nazareth schon an für die Christenheit nicht weiter bedeutenden Tagen ein unvorstellbares Verkehrschaos herrscht und man in der Regel eine halbe Stunde Stau einrechnen sollte, um in die Innenstadt zu gelangen, ist völlig unklar, ob und wie Hunderttausende eigentlich das Ziel ihrer Wallfahrt erreichen wollen. Aber das sind Probleme, über die man angesichts so heiliger Tage besser nicht nachdenkt.