Putin ist der neue Chef der ehrenwerten Kreml-Familie

Jelzins letzter Coup

Der Abgang passte zu den russischen Verhältnissen wie die Faust aufs Auge: Russlands Präsident Boris Jelzin hat sich kurz vor Neujahr selbst gefeuert und Wladimir Putin, den »Kronprinzen« des Kreml und Ex-Geheimdienstler, zu seinem Interims-Nachfolger bestimmt. Neues Personal im neuen Jahrtausend - das ist die frohe Botschaft, die der von seinen Alkohol- und Machtexzessen ramponierte Jelzin spektakulär verkündete.

»Ein Geniestreich«, jubelte Anatoli Tschubais, der Architekt der mafiosen Privatisierungen in Russland, »die Demokratie hat gesiegt«, echote der Tycoon Boris Beresowski, einer aus Jelzins korrupter Entourage.

Beides ist ein wenig hochgegriffen - es war eher ein Gewaltstreich innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens der russischen Präsidialdiktatur. Der scheidende Präsident nutzte seine außergewöhnlichen Vollmachten, die er sich 1993 selbst auf den Leib geschneidert hatte, um seinem Nachfolger den Weg zu ebnen.

Denn Putins Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen als Sieger hervorzugehen, sind nun weiter gestiegen. Zuallererst dadurch, dass die Wahlen nicht, wie vorgesehen, im Juni stattfinden werden, sondern innerhalb von 90 Tagen, spätestens also Ende März. So hat Putin weniger Zeit und Chancen, sein Image zu versauen - das des entschlossenen Terminators, der mit harter Hand gegen die tschetschenischen »Terroristen« durchgreift. Je länger die »anti-terroristische Operation« in Tschetschenien andauert, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die mit russischem Kanonenfutter gefüllten zurückkehrenden Särge in der Bevölkerung eine gewisse Kriegsmüdigkeit auslösen und Putins Chancen bei der Wahl vermindern.

Zudem hat Putin nun als Interims-Präsident die Machtmittel in der Hand, die die russische Politik so sehr vereinfachen. Und die Übergabe des Zarenzepters in die kampfsportgestählten Hände Putins - mit denen er, wie in Moskau kolportiert wird, schon mal einen Gegner auf der Matte umgebracht haben soll - vergrößert noch den überraschenden Erfolg der Kreml-Partei Einheit bei den Dumawahlen kurz vor Weihnachten.

Alles bestens also für Putin, der sich prompt revanchierte. Als eine seiner ersten Amtshandlungen verschaffte er Jelzin - per Dekret - lebenslange Immunität, die den Ex-Präsidenten vor Verhaftung, Hausdurchsuchungen und Vernehmungen schützen wird. Ob diese Art präsidialer Protektion auch für Jelzins Familie, insbesondere seine Tochter Tatjana Djatschenko, gilt, wurde vom Kreml-Pressedienst nur ausweichend beantwortet.

Die Reaktionen aus dem Westen auf Jelzins Rücktritt waren positiv. Sie klangen wie Nachrufe nach dem alten Motto: »Über die Toten nichts als Gutes«. Bundeskanzler Gerhard Schröder würdigte - ähnlich wie Außenminister Joseph Fischer - Jelzins Verdienste für »Demokratie und Marktwirtschaft« in dem zerrütteten Russland, wo sich einige »Oligarchen« die mageren Reste der zusammengebrochenen Ökonomie unter den Nagel gerissen haben und der politische Autoritarismus blüht und gedeiht. Der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble meinte, Jelzin - der dem Westen kürzlich mit der Atombombe drohte - sei in seiner Amtszeit ein »stabilisierender Faktor« gewesen. Der tschechische Präsident Vaclav Havel verstieg sich gar zu »historischer Bedeutung« Jelzins.

Nur ein Gedanke könnte einen wehmütig stimmen: Mit Jelzins Abgang dürften bestimmte aufklärerische Szenen der Vergangenheit angehören - Szenen wie jene am 31. August 1994 in Berlin bei der offiziellen Zeremonie des Abzugs der letzten russischen Truppen aus Deutschland, als Jelzin in eigenwilliger Interpretation des Protokolls einige Tanzschritte andeutete und seinem verdutzten, schließlich aber applaudierenden »Freund« Helmut Kohl durchs Mikrofon einige Zeilen aus »Kaljinka« vorsang. Szenen, die ein bezeichnendes Licht auf jene werfen, die die Welt zu unser aller Nutz und Frommen verwalten - und sei es über Leichenberge hinweg.