Granate in der Kloake

Der Solidarnosc-Mitbegründer, Szczeciner Oberbürgermeister und Kommunistenfresser Marian Jurczyk ist als Mitarbeiter des ehemaligen Geheimdienstes enttarnt worden.

Er ist eine Legende und aus der jüngeren polnischen Geschichte nicht wegzudenken. Marian Jurczyk war der Lech Walesa der Szczeciner Ludwig-Warynski-Werft, Nationalheld der großen Streikwelle 1980 und Vorkämpfer der Gewerkschaft Solidarnosc. Doch während sich der große Elektriker von der Gdansker Leninwerft weltweit zum Inbegriff des »Freiheitskampfes« stilisierte, konnte sich der Schweißer Jurczyk in Szczecin nie derart in Szene setzen. Auch zu einer politischen Karriere wie Walesa hatte es Jurczyk nicht gebracht.

Erst 1997 eroberte er sich mit Sprüchen wie »Kein Zentimeter für Ausländer« (was so viel bedeutet wie: kein Land für fremdes, also deutsches Kapital) den Posten des Szczeciner Oberbürgermeisters und einen Sitz im Senat, dem Unterhaus des polnischen Parlaments. Doch zu diesem Zeitpunkt war Jurczyk selbst unter seinen Anhängern bereits sehr umstritten, weil er sich mit den Stimmen der postkommunistischen SDL wählen ließ. »Jurczyk, Verräter« hieß es damals. Jetzt macht der bekannte Solidarnosc-Aktivist wieder Schlagzeilen: Wegen seiner Mitarbeit beim ehemaligen staatlichen Sicherheitsdienst SB (Sluyba Bezpieczenstwa).

Seine Popularität verdankt Jurczyk nicht nur seinen Verdiensten um die Gewerkschaft. Im Sommer 1982 half ein eigentümlicher Vorfall seiner Polit-Karriere auf die Sprünge. Sein Sohn Adam lag nach einem Fenstersturz auf dem Bürgersteig im Szczeciner Stadtzentrum, einen Tag, nachdem Adams Frau Dorota auf ähnliche Weise zu Tode kam. In Zeiten des Kriegsrechts war allen klar: Der SB, die Kampfabteilung des Innenministeriums, hatte zugeschlagen. Der zu diesem Zeitpunkt inhaftierte Vater Jurczyk wurde in Handschellen zur Beerdigung gebracht, die sich zu einer Demo mit Straßenkämpfen ausweitete. Die aufgebrachte Menge versuchte sogar, ihren Helden zu befreien. Das Grab von Dorota und Adam blieb bis weit in die achtziger Jahre Pilgerstätte der Opposition.

Doch Marian Jurczyk konnte seine Beliebtheit nicht so recht in einen persönlichen Aufstieg ummünzen. Er fand nach seiner Haftentlassung 1984 keinen Anschluss mehr an das Führungspersonal der Gewerkschaft und Walesa verhinderte, dass Jurczyk zu den Gesprächen am Runden Tisch 1989 eingeladen wurde. Bei den ersten Wahlen versuchte der Szczeciner Held daher, eine Konkurrenzorganisation zur Walesa-geführten Solidarnosc ins Leben zu rufen. Die weitgehend erfolglose Solidarnosc 80 wurde vor allem bekannt durch Jurczyks Ausfälle gegen die KP. Schon 1981 hatte er in einer viel zitierten Rede den Galgen für Kommunisten gefordert. Auch im Wahlkampf 1997 präsentierte er sich als Saubermann: »Nur er hat sich nicht verkauft«.

Der Slogan spielt auf die in Polen erst seit zwei Jahren laufende Stasi-Diskussion an. Während die Deutschen die Gauck-Behörde einrichteten und in Tschechien höhere Staats- und Parteipolitiker fünf Jahre von offiziellen Ämtern ausgeschlossen waren - unabhängig von ihrer individuellen Schuld - geschah in Polen nichts dergleichen. Die polnische Wende basierte auf einem Kompromiss zwischen den Kommunisten und der Solidarnosc; eine rechtliche Verfolgung der alten Staatsführung durch die neue war daher ohnehin kaum durchsetzbar.

So sprach sich der erste Solidarnosc-Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki für einen »dicken Schluss-Strich« und nationale Versöhnung aus, auch Lech Walesa verfolgte trotz gegenteiliger Rhetorik eine ähnliche Politik. Erst als Jan Olszewski und die Hardliner-Fraktion der Solidarnosc 1992 die Regierung übernahmen, wurde die »Dekommunisierung« doch auf die Tagesordnung gesetzt. Der Innenminister ließ eine Liste anfertigen, auf der die Kontakte hoher Beamter, Abgeordneter und Minister zum SB offengelegt wurden. Unter den SB-Informanten befand sich mit dem Tarnnamen »Bolek« auch Lech Walesa. Dieser soll den Sicherheitsdienst über die Stimmung unter den Gdansker Werftarbeitern aufgeklärt haben.

Erst vor einigen Tagen äußerte sich Walesa erneut zu den alten Vorwürfen: »Wir sollten daran denken, dass in diesen 50 Jahren alle - ich wiederhole - alle, in irgendeiner Weise in das System eingebaut waren. Die Frage ist, wer sich dreckig gemacht hat, wie sehr und auf welche Weise.« In seinem Fall gebe es Papiere, auf denen seine Unterschrift stehe, die er aber sicher nicht geleistet habe.

Nach ihrem Wahlsieg 1997 kreierten die Rechten ein neues Gesetz, das nun nachträglich Licht in die personellen Angelegenheiten des Nachrichtendienstes bringen sollte. Alle höheren Beamten, Richter, Chefredakteure staatlicher Medien, Abgeordnete und Minister, rund 20 000 Personen, müssen Auskunft über ihre Vergangenheit geben.

Diese Prozedur nannte man Lustracja (Besichtigung): Nur wer keine Kontakte zum SB zugibt und dann doch von den so genannten Lustrationsgerichten einer Zusammenarbeit überführt wird, darf für zehn Jahre keine offiziellen Ämter übernehmen. Das Verfahren ist vor allem wegen der undurchsichtigen Aktenlage umstritten: Welche wurden nach 1989 vernichtet, welche sind in »Privatarchiven« verschwunden, welche sind original? Fraglich ist auch, ob die Aussagen in den Stasi-Unterlagen überhaupt der Wahrheit entsprechen.

Die Revolution frisst ihre Kinder. Schuld an der späten, dafür umso paranoideren polnischen McCarthy-Ära sind die Saubermänner in der Solidarnosc selbst. Denn das Lustrationsgesetz, das die Postkommunisten treffen und schwächen sollte, stellt sich als Bumerang heraus.

Bisher prominentestes Opfer der Lustration auf Seiten der Solidarnosc war im September letzten Jahres Innenminister Janusz Tomaszewski. »Ich glaube, ich bin nicht mehr im Amt«, vermutete dieser ganz zu Recht, obwohl das Verfahren gegen ihn in der Lustrationsstelle überhaupt noch nicht abgeschlossen war (Jungle World, 37/99). Eine Woche zuvor hatte es schon den stellvertretenden Verteidigungsminister Robert Mroziewicz getroffen. Selbst Ministerpräsident Jerzy Buzek wurde der Stasi-Mitarbeit verdächtigt, die Vorwürfe erwiesen sich allerdings bald als unhaltbar.

Die heftigsten Verräter-Vorwürfe von der einen Seite und höhnisches Lachen von der anderen fing sich jedoch ein anderer ein: Marian Jurczyk.

Denn die Hunderte von Kerzen am Grab von Dorota und Adam hatten einem ganz anderen Pärchen die letzte Ehre erwiesen, als es die Legende der Solidarnosc-Aktivisten glauben machen wollte. Dorota sprang, das ergeben nun Protokolle eben jener Staatssicherheit, nach einem heftigen Ehestreit von selbst aus dem Fenster, ohne jedes Zutun des SB. Adam konnte sich den Tod seiner Frau nicht verzeihen und folgte ihr am darauf folgenden Tag. Der Politiker Marian Jurczyk hatte mit seinem Sohn Adam aus geschiedener Ehe kaum Kontakt - der Tod der Kinder mit seinen politischen Aktivitäten nichts zu tun.

Stattdessen hat die Geschichte nun eine ganz andere Bedeutung erhalten: Auch der Kommunistenfresser Jurczyk ist Ende November 1999 als Stasi-Mitarbeiter enttarnt worden. Seinen Senatssitz musste er bereits aufgeben, sein Amt als Szczeciner Oberbürgermeister ist er vermutlich auch bald los. »Niemand will Jurczyk mehr unterstützen«, titelte vergangene Woche die Gazeta Wyborcza. Dabei hätte es die Solidarnosc besser wissen können. Bereits 1990 hatte Adam Michnik gewarnt, man solle »keine Granaten in eine Kloake werfen«.