Justice Down Under

Großbritannien lässt einen lettischen SS-Verbrecher mit australischem Pass ausreisen, anstatt ihn vor Gericht zu stellen.

Ein 86 Jahre alter, gebrechlich wirkender Mann steigt die letzten Stufen zu dem Flugzeug der Singapore Airlines nach Melbourne empor. Kein Lächeln ist auf seinem Gesicht. Mit dem Abflug aus London Heathrow kommt der australische Staatsbürger einer Ausweisung der britischen Behörden zuvor.

Der Mann hat Erfahrung mit solchen Situationen: 1994 wurde er in den USA des Landes verwiesen, 1997 auch in Kanada. Denn Konrad Kalejs war einer der schlimmsten Helfer der Nazis im Baltikum. Das Simon Wiesenthal Center in Jerusalem macht Kalejs verantwortlich für den Tod von ungefähr 30 000 Menschen, die meisten davon Juden, in Lettland.

Als Kommandeur in einer lettischen Hilfseinheit der SS-Truppen führte er mobile Mordeinsätze durch, außerdem bewachte er das Todeslager Salaspils. Überlebende Insassen berichten von »extrem grausamen Wachen. Wenn sie einen Insassen mit illegalem Essen erwischten, wurde er sofort der deutschen SS überstellt und entweder erschossen oder aufgehängt.«

Als Kalejs 1950 nach Australien emigrierte, machte seine Einreise kein Problem. Er bekam sogar einen Posten bei der Einwanderungsbehörde. 1957 wurde er australischer Staatsbürger, zwei Jahre später wanderte er in die USA aus. Dort lebte er 35 Jahre als Geschäftsmann, bevor seine Vergangenheit ruchbar wurde. Er wurde des Landes verwiesen.

Kalejs, der bis heute einen australischen Pass besitzt, kehrte nach Australien zurück. Doch auch dort hatte inzwischen eine Diskussion über den Umgang mit geflüchteten Nazis eingesetzt. Denn wie es schien, war der Weg, den Kalejs genommen hatte, in den ozeanischen Staat keine Seltenheit. In einer Atmosphäre, die vor allem vom Kampf gegen den Kommunismus geprägt war, wurde antikommunistisches Engagement - selbst in der SS - auch in Australien honoriert. Als Ende der vierziger Jahre Berichte auftauchten, denen zufolge bei zahlreichen Immigranten Spuren von SS-Tätowierungen festgestellt worden seien, sprach der damalige Immigrationsminister Arthur Calwell von »weither geholtem Unsinn«.

Erst als Ende der achtziger Jahre eine kritischere Berichterstattung der Medien einsetzte, rief die Regierung die Australian War Crimes Unit ins Leben, die solche Fälle aufklären sollte. Bereits 1993 wurde die Sondereinheit aber wieder aufgelöst, so dass Kalejs sich keine Sorgen machen musste, als er 1994 nach Australien zurückkehrte. Trotzdem zog es der Kriegsverbrecher nach kurzem Aufenthalt vor, sein Glück in Kanada zu suchen. Hier dauerte es nur etwa anderthalb Jahre, bis seine Vergangenheit erneut ein Verfahren heraufbeschwor.

Eine Anklage war den kanadischen Autoritäten aber zu heikel. Kalejs wurde abermals des Landes verwiesen und landete wieder in Australien. Doch es zog ihn weiter auf die Nordhalbkugel: Mitte 1999 beschloss er offenbar, seinen Lebensabend in Großbritannien zu verbringen.Nach einem halben Jahr in dem luxuriösen Cathrope Manor Altenheim für alte Letten in Leicestershire spürte ihn ein Fernsehteam auf. Aber auch in Großbritannien fürchtete Innenminister Jack Straw das Aufsehen um einen möglichen Prozess, ließ verlauten, Kalejs Anwesenheit sei »für das Gemeinwohl nicht gut«, und begann ein Verfahren, um ihn außer Landes zu weisen. Durch seine Flucht am Mittwoch vergangener Woche kam Kalejs der Ausweisung zuvor.

In Australien fordert jetzt Robert Greenwood, ehemaliger Chef der aufgelösten Australian War Crimes Unit, vehement eine Neu-Installation der Ermittlungsgruppe. Das Verfahren gegen Konrad Kalejs solle noch einmal aufgenommen werden. Bliebe Kalejs auf dem fünften Kontinent ungeschoren, wäre eine weitere Möglichkeit, dass Lettland einen Antrag auf Auslieferung stellt. Vor wenigen Monaten wäre das noch undenkbar gewesen: Seit der Unabhängigkeit des Staates wurde in Lettland noch niemand wegen Nazi-Kollaboration angeklagt.

Vielmehr findet in der Hauptstadt Riga jedes Jahr am 16. März ein Aufmarsch von Veteranen der Waffen-SS mit mehreren Hundert Teilnehmern statt. An diesem Tag trafen 1943 zum ersten Mal Einheiten der Lettischen SS auf die Rote Armee. Seit letztem Jahr ist der 16. März auch staatlicher Veteranentag. Für nicht wenige Letten sind die SS-Einheiten noch Volkshelden. Ein Veteran der Waffen-SS bringt eine weit verbreitete Stimmung auf den Punkt: »Wir haben keine Juden getötet, sondern Kommunisten. Es ist nicht unsere Schuld, dass es so viele Juden bei den Kommunisten gab.«

In Lettland aber scheint sich, und sei es nur durch die Aussicht auf den EU-Beitritt, etwas zu tun. Zumindest verbot letztes Jahr der damalige Präsident Guntis Ulmanis hochrangigen Vertretern von Regierung und Armee, an dem Veteranenmarsch teilzunehmen. Heute hält Lettlands Botschafter in London, Normans Penke, sowie Präsidentin Vaira Vike-Freberga eine Auslieferung von Kalejs zumindest für möglich. Sollte Kalejs der Verbrechen schuldig sein, erwarte ihn eine »strenge Bestrafung«. Aber vorerst reichen den Letten die Beweise noch nicht. Die Präsidentin bittet deshalb alle, die Beweise in dem Fall haben, sie vorzubringen. Ein Verfahren gegen Kalejs sei wünschenswert.

Dabei sollten die vom Simon Wiesenthal Center und den US-amerikanischen Justizbehörden gesammelten Fakten eigentlich ausreichen, damit Kalejs für den Rest seines Lebens keine Ruhe mehr findet. Der 1913 in Lettland geborene Kalejs trat im Alter von 22 Jahren als Kadett in die Armee des damaligen unabhängigen Lettland ein. Als 1940 die Rote Armee ins Baltikum einfiel, wechselte Kalejs die Fronten und wurde Rotarmist. Nach dem Einmarsch der Deutschen schloss er sich einer lettischen Freiwilligen-Einheit des so genannten Kommando Arajs an, einheimischen Helfern der SS. Kalejs war einer von sechs oder sieben Offizieren direkt unter dem Anführer Arajs und damit Befehlshaber über mindestens hundert Freiwillige. Unter seinem Kommando schlachteten sie Juden ab.

Zum Beispiel an jenen drei Tagen, an denen im Rigaer Getto »Platz geschaffen« werden sollte. Innnerhalb von 36 Stunden starben 27 800 Juden. Von ehemals 70 000 Juden in Lettland waren nach dem Krieg noch 300 am Leben. Alfred Winter, heute 81 Jahre alt, ist einer davon. Im Interview mit der britischen Zeitung Sunday Mail stellte er fest: »Die Leute vom Kommando Arajs waren nicht gezwungen, Befehlen zu gehorchen. Es waren Freiwillige.« Er meint auch: »Ich habe keine persönlichen Hassgefühle gegenüber diesem Mann - ich glaube einfach, er sollte im Gefängnis sein. Und er sollte auch dort sterben.«