Testlauf im Kosovo

Bei der EU-Außenpolitik drängt vor allem Frankreich auf mehr Eigenständigkeit gegenüber Washington. Die Kfor-Truppen im Kosovo könnten zum Präzedenzfall werden.

Gasp - das klingt wie ein spaßiger Ausdruck aus der Comicsprache. Doch die 28 biederen Herren in Anzug und Krawatte mit ihren Diplomatenköfferchen meinen es bitter ernst. In einem Trakt des Ministerrats-Gebäudes der EU in Brüssel brüten sie derzeit die Gasp aus, die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« der Europäischen Union. Was lange Zeit eher eine Schimäre schien, die lediglich in feierlichen Reden hochgehalten wurde, scheint nun Gestalt anzunehmen.

Der Wunsch der Westeuropäer nach einem eigenen militärpolitischen Gewicht ist nicht neu. Doch die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges sowie die bis 1990 eingeschränkte Souveränität der BRD verhinderten lange Zeit den Erfolg solcher Bestrebungen. Erst der Zusammenbruch der bipolaren Blockstruktur und das Ausbrechen ethnisch-nationalistischer Konflikte in Ost- und Südosteuropa sorgten ab 1989 für veränderte Bedingungen. Der Kosovo-Krieg schließlich hatte eine erhebliche Katalysator-Wirkung und bestärkte die meisten europäischen Staaten in ihrem Wunsch nach einer stärkeren militärischen Bedeutung der EU.

Denn der Krieg führte den Europäern deutlich ihre materielle Abhängigkeit von den militärischen Kapazitäten der USA - etwa im Bereich des Lufttransports - vor Augen, die es nun abzubauen gilt. Politisch-strategische Interessenkonflikte verhinderten jedoch bisher, dass aus solchen Bestrebungen tatsächlich ein gemeinsames militärpolitisches Handeln resultierte. Größere Auseinandersetzungen wie der Golfkrieg 1991 bestätigten beispielsweise, dass Großbritannien eisern an seiner special relationship zu den US-Amerikanern festhielt und im Zweifelsfall eher zu Washington als zu den EU-Staaten hielt.

Erst in den letzten Jahren hat sich die britische Haltung geändert. Im Dezember 1998, anlässlich des französisch-britischen Gipfels in Saint-Malo, ließ Großbritannien erstmals eine Öffnung in Richtung einer gemeinsamen europäischen Militärpolitik, unabhängig von den USA, erkennen. Seit der Einführung der Währungsunion um verstärkten Anschluss an die EU bemüht, gibt die Blair-Regierung bisherige Widerstände in dieser Richtung auf. Der in Saint-Malo verabschiedete Abschlusstext spricht sich explizit für eine militärpolitische Rolle der Europäischen Union aus.

Daheim werfen bereits Tory-Politiker, aber auch die Tageszeitung The Guardian, Blair eine »Gefährdung der atlantischen Loyalität« vor. Zugleich ist jedoch klar, dass die britische Labour-Regierung eine europäische Militärpolitik nur so lange unterstützt, wie deren Nato-Einbindung bestehen bleibt. So hatte der britische Premier alles darangesetzt, den ehemaligen britischen Verteidigungsminister George Robertson zum neuen Nato-Generalsekretär zu machen. Das nordatlantische Engagement gilt London weiterhin als fundamental.

Ähnlich sieht das ein zweiter, sehr Nato-treuer Mitgliedsstaat der EU, die Niederlande. In einem Gastbeitrag für die Pariser Abendzeitung Le Monde warnte der niederländische Außenminister Jozias van Aartsen im Dezember, am Tag vor der Eröffnung des EU-Gipfels in Helsinki, vor einer überdehnten Konzeption der gemeinsamen europäischen Militärpolitik, die er ansonsten grundsätzlich begrüßt: »Eine europäische Streitmacht für Krisenverwaltung zu begründen, die vollkommen eigenständig wäre, hieße zu vergessen, dass die Nato bereits über kollektive Mittel verfügt.« Er schloss eine Beteiligung der Niederlande an solchen parallelen Strukturen aus.

Auch Javier Solana als Beauftragter der Gasp soll nach den Worten des britischen EU-Kommissars für auswärtige Beziehungen Chris Patten gegenüber Le Monde die Gewähr dafür bieten, dass es nicht zum Bruch mit der Nato kommt: »Es ist wenig wahrscheinlich, dass Solana, ehemaliger Generalsekretär der Nato, als jener erscheinen will, der die Allianz geschwächt hat.«

Frankreich hingegen zeigt sich mit am stärksten bemüht, unabhängiger vom militärpolitischen Einfluss der USA zu werden. So forderte der französische sozialistische Außenminister Hubert Védrine Anfang Dezember in einem Interview der Pariser Tageszeitung Libération die Europäer dazu auf : »Stellen wir zunächst in Helsinki eine gute europäische Truppe auf, entwickeln wir unsere Kapazitäten, und die Dinge werden sich von selbst klären, wenn es in einer Krisensituation zu handeln gilt.«

Auch besitzt Frankreich nach wie vor große eigenständige, weltpolitische Interessen. So ist Paris in Afrika nach wie vor quantitativ stärker engagiert als jeweils in Bosnien oder im Kosovo im Rahmen der Nato-Missionen. Derzeit stehen 8 200 französische Soldaten in Afrika, im Vergleich zu 7 600 im Kosovo (im Rahmen der Kfor) und 3 600 im Sfor-Verbund in Bosnien.

Zwar hat sich Paris seit Ende 1995 wieder stärker in die Nato-Strukturen intergriert und damit seinen früheren militärpolitischen Alleingang teilweise wieder rückgängig gemacht. Dies kann aber auch so interpretiert werden, dass Paris eine militärpolitische Isolierung gegenüber den EU- Staaten, die zugleich Nato-Mitglieder sind, vermindern oder abbauen wollte.

Doch in welchem Maße auf die Nato, und damit vor allem die US-Amerikaner, Rücksicht zu nehmen sein wird, darüber gehen die Ansichten innerhalb der EU offenkundig auseinander. Selbst die US-Position zur Frage einer EU-Militärpolitik ist keineswegs eindeutig festgelegt. Bereits in den achtziger Jahren, als die USA sich mit der enormen Hochrüstung unter Präsident Ronald Reagan ökonomisch und finanziell zu übernehmen drohten, entstand die Idee von einer Lastenteilung im Bündnis. Doch nur ungern verzichtet man in Washington auf politischen Einfluss.

Der im Dezember auf dem EU-Gipfel in Helsinki gefasste Beschluss ist von seiner politischen Reichweite her interessanter als unter materiellen Aspekten. Bis 2003 soll die EU in der Lage sein, im Rahmen weltweiter Einsätze binnen 60 Tagen Truppen in der Stärke von mehr als 50 000 Mann zu mobilisieren. Entsprechende Truppenkapazitäten sind in der EU bereits heute vorhanden. Neu ist die Organisationsform. Die Truppen sollen einem Europäischen Militärkomitee unterstellt werden, das mittelfristig durch einen europäischen Generalstab abgelöst wird.

Zu einem Präzedenzfall zwischen Washington und Brüssel könnte sich die Schutztruppe im Kosovo entwickeln. Auf der Brüsseler Nato-Ministerratstagung Anfang Dezember wurde gefordert, in der ersten Jahreshälfte 2000 die Kfor unter europäisches Kommando zu stellen. Bisher stand die aus Truppen des Nordatlantikpakts zusammengesetzte Kfor unter der Oberaufsicht des US-Generals Wesley Clark, Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa. Doch die Europäer wollen mehr.

Diskutiert wird derzeit sogar die Ablösung der Kfor durch eine rein europäische Streitmacht in Gestalt des 1992 gegründeten Eurokorps, dem Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und Spanien angehören. Zunächst soll jedoch der Generalstab des Eurokorps den Oberbefehl in der Kfor übernehmen. Nato-General Clark hatte angekündigt, vor Ende 1999 die Anfrage der Europäer zu beantworten. Eine Entscheidung steht noch aus.