Dynamik des Faschismus

Zeev Sternhells Studie zur »Entstehung der faschistischen Ideologie« überwindet die Fehler der marxistischen Faschismus-Analyse.

Zeev Sternhells Bücher über die französischen und italienischen Ursprünge und Vorläufer des Faschismus stehen für eine Art kopernikanische Wende: Sie haben den Blick der Linken auf den Forschungsgegenstand »Faschismus« entscheidend verändert. An die Stelle einer Sichtweise, die den Faschismus vom Ergebnis her untersuchte und vorrangig seine Funktion als Krisenlösungs-Instrument des Kapitalismus in zugespitzten Situationen aufgriff, gehen Sternhells Analysen an die Anfänge zurück und fassen den Faschismus zunächst als eine Bewegung und Ideologie auf, die von einer Eigendynamik getragen wurde.

Erst im Anschluss daran befasst sich Sternhell mit dem gesamtgesellschaftlichen Kräftefeld, aus dem heraus der europäische Faschismus schließlich zum radikalen Krisenlösungsinstrument für den schwer erschütterten Kapitalismus, vor allem nach 1929, wurde.

Auf diese Weise vermeidet Sternhell, der selbst als Linker gelten kann und sich in seinen Büchern positiv auf Marx und Engels bezieht, einen Grundfehler der orthodox- und vulgärmarxistischen Analytiker des Faschismus. Diese reduzierten den Faschismus auf ein bloßes Herrschaftsinstrument des Kapitals, ohne die ideologische und materielle Dynamik des Faschismus erklären und ohne seine Entstehung und Existenz als eigenständiges Phänomen - in Form von Bewegungen, die sich (in Frankreich) jahrzehntelang in Opposition zur herrschenden Ordnung entwickelten - beschreiben zu können.

Ungewollt verteidigt Jochen Baumann in seinem Beitrag zu Sternhell (Jungle World, 52/1/99) im Ansatz ein solches Analysemuster gegen die Erkenntnisfortschritte, die u.a. durch das Werk Sternhells ermöglicht wurden. So, wenn Baumann schreibt : »Mussolini betrieb schlicht eine (...) Politik zum Nutzen der alten herrschenden Gruppen Italiens (...). Ihre Stützen (die der Diktatur; B.S.) waren das Militär und nicht die Arbeiter.«

Niemand kann ernsthaft behaupten, der Faschismus an der Macht habe eine sozialrevolutionäre Politik zu Gunsten der ausgebeuteten Klassen betrieben, doch Baumanns Einwände entfernen uns von einer Antwort auf die fundamentale Frage, wie der (italienische) Faschismus entstehen und aufsteigen konnte, bevor die alten Eliten des Landes ihn nach dem Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Streikwelle als Bündnispartner entdeckten und ihn an die Macht kommen ließen.

Ferner moniert Baumann: »Authentischer Faschismus kann für Sternhell einfach nichts mit (radikalem) Konservativismus gemein haben.« Eine Sichtweise, die, so Baumann, am italienischen Beispiel »scheitert« und am französischen »nicht überzeugt« - das deutsche ist, wie Elfriede Müller in ihrem Beitrag (Jungle World, 2/00) bereits festgestellt hat, nicht Gegenstand von Sternhells Arbeiten. Baumanns Kritik an Sternhell ist deshalb nicht plausibel, weil der Faschismus tatsächlich etwas qualitativ anderes ist als nur radikalisierter Konservatismus. Einen solchen Konservatismus - im Sinne einer uneingeschränkten Durchsetzung einer reaktionären Klassendiktatur - würde man eher mit Modellen in der Variationsbreite zwischen Augusto Pinochet und Margaret Thatcher identifizieren. Der Faschismus, der zumeist mit einer »echten« Massenbewegung einhergeht, ist aber tatsächlich etwas anderes als nur die ungetrübte Herrschaftsausübung durch die ökonomischen sowie die traditionellen gesellschaftlichen Eliten (Kapital, Militär, eventuell Klerus).

Für Sternhell entsteht »der« Faschismus - bzw. dessen Vorläuferphänomene im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert - aus einer Verbindung zwischen Elementen, die von Anfang an der politischen Rechten zugehörig sind, und solchen, die von der Linken her kommen. Sternhell beschreibt nicht nur diesen Prozess der Synthetisierung, sondern er leistet zugleich noch zwei weitere analytische Anstrengungen. Zum einen benennt er die Bruchstellen innerhalb der Linken, die dieses »Herüberwandern« einiger ihrer Unterströmungen und ihre Verbindung mit rechten reaktionären Elementen ermöglichten. Diese »Wanderungsprozesse« quer durch die politische Links-Rechts-Einteilung gingen nicht ohne Widerstände und Brüche ab: So zitiert Sternhell zeitgenössische linke Theoretiker, darunter Marx und Engels, die die Entwicklungen einiger politisch-ideologischer Strömungen anprangern und die ihnen innewohnenden Gefahren benennen.

Zum anderen hat sich Sternhell detailliert mit den strategischen Gedankengängen Maurice Barrès', eines der Vordenker des nationalen Sozialismus, beschäftigt. Barrès verstand den »organischen Nationalismus« als Mittel, um die durch den Industralisierungsprozess aufgerissenen sozialen Gräben zu überbrücken und um die Arbeiterschaft wieder in die Nation zu integrieren.

Weil Sternhell die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitbedenkt, sind in seiner Analyse des Prä- und Früh-Faschismus Links und Rechts niemals gleichgültige Kategorien: Eine Reihe von Scharnier-Perioden werden in den Werken Sternhells (u.a. in »La Droite révolutionnaire«) ablesbar, und für jede dieser Perioden liefert Sternhell eine schlüssige Erklärung dafür, warum Teile der Linken die Wanderung unternahmen, die sie schließlich - am Ende eines historischen Prozesses - auf die Seite der extremen Rechten führte. In einer ersten Phase ist dies die Niederlage des sozialistischen Experiments der Commune de Paris und der daraus folgende desolate Zustand der Arbeiterbewegung, der einige linke Unterströmungen anfällig dafür machte, Mitte der 1880er Jahre in die »Sammlung aller Unzufriedenen« unter dem revanchistischen General Georges Boulanger aufzugehen.

Ausführlich beschreibt Sternhell die Schlüsselfunktion des Vordenkers des modernen französischen Antisemitismus, Edouard Drumont, für die 1880er Jahre. Selbst aus dem Milieu der katholischen Konterrevolutionäre kommend, die die Revolution von 1789 ablehnen, führt Drumont die soziale und ökonomische Argumentation gegen die »jüdische Bourgeoisie« - die in manchen frühsozialistischen Kreisen üblich ist - und die katholische Judenfeindschaft in einem historischen Knotenpunkt zusammen. In einer Situation, in der sich gescheiterte Linke und einige Rechte bereits getroffen hatten - und zwar im Boulangismus -, vollzieht Drumont so eine folgenreiche ideologische Synthese. Sein Motiv ist es, die - in seinen Augen negative - Kraft der sozialen Revolte, die er unter der Commune de Paris erlebte, gegen die verhasste liberale und »kirchenfeindliche« Republik zu wenden.

Die in der Folgezeit in der Dreyfus-Affäre gipfelnde Konfrontation zwischen heranwachsender antisemitischer Massenbewegung und liberaler Republik, in welcher der organisierte Sozialismus sich schließlich auf die Seite der Verteidiger der Republik stellt und sich erstmals in einem kapitalistischen Land an einer Regierung beteiligt, legt bereits die Grundlage für die nächste Periode. Enttäuscht von der sozialen Bilanz der Regierungsbeteiligung, wenden sich Teile der Arbeiterschaft ab - und werden zum Ziel der »sozialen« Agitation einiger Kreise der Rechten, die im Zeitraum zwischen 1900 und 1914 einige gewerkschaftliche Kreise als Ansprechpartner gewinnen können.

Verständlich wird dieses sozial-agitatorische und, von der Form her, »revolutionäre« Wirken der Rechten, das ihr das »Herüberziehen« einiger linker Gruppen erlaubte, nur dann, wenn man einen spezifischen Charakter der französischen Politik jener Zeit berücksichtigt. In dieser Periode existierte bereits auf der reaktionären, post-feudalen, klerikalen und pro-monarchistischen Rechten - der z.B. die Action fran ç aise entstammt - eine mächtige Strömung, die in Opposition gegen die herrschende bürgerliche Ordnung stand. Dies, weil sie das Werk der bürgerlichen Revolutionäre von 1789, die ihrerseits die überkommene Ordnung zerstört hatten, rundheraus ablehnen. In Deutschland hingegen waren diese traditionellen Eliten noch bis 1918 politisch an der Macht und gingen ökonomisch teilweise in den neuen Eliten des aufstrebenden Kapitalismus auf.

Erneut eine solche »Synthese« zu begründen, dies versuchte die reaktionäre Rechte in der Zwischenkriegszeit in Frankreich, jedoch mit weit weniger Erfolg. Der Großteil der Truppen der extremen Rechten der dreißiger Jahre entstammt tatsächlich eher dem bürgerlich-konservativen Milieu, und Elfriede Müller irrt, wenn sie in ihrem Beitrag schreibt, dass keine Partei so viele Mitglieder an die faschistischen Bewegungen verloren hat wie die KP. Auch der Hinweis auf deren Nationalismus geht fehl, da sich die französische KP erst ab 1935/36 positiv auf den Patriotismus bezieht. Im Gegensatz zu Deutschland, das durch die Komintern als »unterdrückte Nation« analysiert worden war, hatte der Kommunismus der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in Frankreich eher einen sehr plakativen Anti-Nationalismus betrieben. Die Überläufer von der KP zum Faschismus der dreißiger Jahre - in einer Periode, da die KP ihre Positionen festigte - waren kein Massenphänomen, und der Großteil von dessen Truppen kommt aus dem bürgerlich-konservativen Lager oder den Soldaten-Veteranenverbänden.

Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es tatsächlich prominente Überläufer vom autoritären Parteikommunismus zum Faschismus gab; deren Exponent ist Jacques Doriot, der 1934 als gescheiterter Anwärter auf die KP-Führung aus der Partei gedrängt wurde. Beseelt von dem Drang, sich einerseits am Kommunismus zu rächen, und andererseits dessen erfolgreiche Massenmobilisierung mit andereren Mitteln als denen des Klasseninteresses - eben mit Hilfe des Nationalismus - zu kopieren, gründete Doriot 1936 die erste »echte« faschistische Massenpartei in Frankreich, den PPF (Parti populaire fran ç ais).

Die Partei, deren führende Mitglieder Ende der Dreißiger zur einen Hälfte aus der KP und zur anderen Hälfte von der traditionellen Rechten kamen, wurde später zeitweise zum direkten Ansprechpartner der deutschen Nazis (vor allem der SS) im besetzten Frankreich, über die Köpfe der Vichy-Regierung hinweg. Tatsächlich stand der PPF der NS-Grundkonzeption näher als die vor allem den Klerus und das Militär vertretenden Traditionalisten in Vichy.

Freilich wollte die deutsche Botschaft (im Gegensatz zur SS) kein eigenständiges faschistisches »Modell« in Frankreich, das dadurch »Gleichberechtigung« verlangen würde, und zog die Vichy-Regierung vor. Im innerrechten Konkurrenzkampf, der unterdessen die antisemitische Radikalisierung im halb besetzten und halb souveränen Frankreich vorantrieb, unterlag Doriot daher. Die Entwicklung etwa eines Doriot oder der vergleichbare Weg des Ex-Sozialdemokraten Marcel Déat sind gravierend genug, um sie eingehend zu untersuchen und sie nicht mit dem Hinweis- auf den Nutzen des Faschismus für den Kapitalismus vom Tisch zu wischen. Umgekehrt lassen sie sich nicht in eine modische Rot-gleich-Braun-Theorie einpassen. Mit Sternhell wäre es für die gesamte Periode der Existenz faschistischer Bewegungen sinnvoller, die konkreten Brüche zu untersuchen, entlang derer solche Bewegungen in das soziale Milieu der Linken und der Arbeiterbewegung eindringen konnten.

Zeev Sternhell/Mario Snajder/Maia Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Hamburger Edition, Hamburg 1999, 480 S., DM 68

Bisher erschienen zu Sternhell Beiträge von Jochen Baumann (Jungle World, 52/1/99), Elfriede Müller (2/00) und Jean Cremet (3/00).