Mobilmachung für Europa

Die Türkei ist noch lange nicht EU-Mitglied. Trotzdem freuen sich alle. Nur die Linke schwankt zwischen Begeisterung für bürgerliche Demokratie und einem nationalistischen Antiimperialismus.

Milliarden Euro raus - Millionen Türken rein« titelte die Deutsche Nationalzeitung nach dem EU-Gipfel im Dezember 1999 in Helsinki und brachte damit eine Sorge auf den Punkt, die die Nazis mit der konservativen deutschen Presse und der christdemokratischen Opposition verbindet.

Seitdem die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen haben, die Türkei als Kandidatin für eine EU-Mitgliedschaft formell anzuerkennen, quält man sich in jenen Kreisen mit der Vorstellung, Massen türkischer Staatsbürger könnten bald von der Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen und nach Deutschland einreisen. Zeitgleich könnte Ankara zum alleinigen Empfänger von EU-Geldern mutieren und Europa als »Schicksalsgemeinschaft« (Michael Glos) zerstören.

Außenminister Joseph Fischer versuchte zu beschwichtigen. Die Türkei hätte, erklärte er im Bundestag, »bereits Luxemburg so interpretieren können, wie sie sich jetzt auf Helsinki eingelassen hat« - wenn nicht der damalige Bundeskanzler Kohl im Vorfeld des Luxemburger EU-Gipfels im Dezember 1997 mit seinem Gerede über die christlich-abendländische Identität Europas Ankara verprellt hätte.

Im Unterschied zur Vorgängerregierung lässt sich Rot-Grün nicht von derlei kulturalistischen Ressentiments leiten. In der Sache aber, so Fischer, hat sich auch in Helsinki nichts verändert: »So unterschiedlich sind die Beschlüsse von Helsinki und Luxemburg nicht. Aber die Reaktion der Türkei ist völlig unterschiedlich. Wir stehen jetzt in einem anderen Verhältnis zur Türkei.«

Dieses »andere Verhältnis« wird gebraucht, um den geplanten Sprung zur europäischen Militärmacht zu verwirklichen. Gerhard Schröder hatte bereits Mitte Dezember angekündigt: »Wir Europäer wollen und werden mitbestimmen, wenn die Spielregeln festgelegt werden für die globale Ordnung des 21. Jahrhunderts.« Und auf dem »großen Schachbrett« (Zbigniew Brzezinski) kommt der türkischen Figur eine große Bedeutung zu. Daher der Wandel im Umgang der EU mit der Türkei.

Sieht man sich die fraglichen EU-Beschlüsse an, muss man Fischer zustimmen. Hatte es in Luxemburg noch geheißen, die »Türkei kommt für einen EU-Beitritt in Frage«, lautet der Beschluß von Helsinki: »Die Türkei ist ein beitrittswilliges Land, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll.« Konkrete Beitrittsverhandlungen soll es erst geben, wenn Ankara die Kopenhagener Kriterien - funktionsfähige Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenschutz - erfüllt.

Da die Türkei aber bei der Implementierung der politischen Kriterien weit hinterherhinkt, bildet sie nach wie vor das Schlusslicht aller Anwärterstaaten: Als einzigem Land wurde ihr kein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen genannt. Auch Gewissheit, dass es diese jemals geben wird, geschweige denn, ob sie zu einem erfolgreichen Abschluss gelangen, gibt es nicht.

Die wichtigste Veränderung in der EU-Linie besteht in einem neuen Umgangston gegenüber Ankara. Das genügte, um in der türkischen Öffentlichkeit Freudengesänge auszulösen. »Jetzt sind wir Europäer«, »Willkommen in Europa«, »Eine neue Ära in den Beziehungen zu Europa« überschlugen sich die Titelseiten der Tageszeitungen. Glaubt man der Berichterstattung, wird jetzt alles gut und die Segnungen der westlichen Welt halten auch am Bosporus Einzug: Wohlstand, Demokratie, Menschenrechte. Auch die Ära der Militärputsche, so die Tageszeitung Sabah, sei nun endgültig vorbei.

Getrübt wird die Freude nur von der Vorstellung, dass man auf einige lieb gewonnene Gewohnheiten wohl künftig wird verzichten müssen. Schließlich verstoßen der fliegende Bulettenhändler, das Abschlachten von Opfertieren auf der Straße und das Foltern von Gefangenen gegen EU-Normen. Aber zu diesen Konzessionen ist man bereit. Und schon hat Staatspräsident Süleyman Demirel eine »nationale Mobilmachung« gefordert, diesmal allerdings nicht, um den Irak oder Zypern zu überfallen, sondern um das Land europatauglich zu machen.

Auffällig ist, wie weit das Spektrum derer reicht, die sich dem eigenen Bekunden nach an der »nationalen Mobilmachung« beteiligen möchten: Alle im Parlament vertretenen Parteien, türkische und kurdische Nationalisten, Islamisten, Militär und Kapital, Rechte und Linke begrüßten einhellig den Beschluss von Helsinki. So unterschiedlich die Interessen und Hoffnungen sind, alle scheinen Europa als einzigen Ausweg aus der chronischen Krise von Staat und Gesellschaft zu sehen.

Am wenigsten verwundert dabei, dass das politische, wirtschaftliche und militärische Establishment den Helsinki-Beschluß positiv aufgefasst hat. Schließlich ist die Türkei seit 1996 in einer Zollunion mit der EU verbunden, ohne dass das Land bisher Vorteile aus dieser Liaison gezogen hat. Im Gegenteil: Während der Anteil der EU am türkischen Import von 47,2 Prozent im Jahr 1995 auf 51,2 Prozent 1998 anstieg, ging der EU-Anteil an den türkischen Exporten im selben Zeitraum von 51,2 auf 46,6 Prozent zurück.

Zwischen 1996 und 1998 erzielte die EU im Außenhandel mit der Türkei einen Überschuss von mehr als 30 Milliarden US-Dollar, dem türkischen Staat fehlen seit Einführung der Zollunion jährliche Einnahmen in Höhe von 2,6 Mrd. US-Dollar. Bislang aber hat die EU versprochene Finanzhilfen wegen des griechischen Vetos blockiert. Athen hat inzwischen angekündigt, das Veto zurückzuziehen, so dass demnächst Ausgleichszahlungen und Kredite in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro nach Ankara überwiesen werden müssten.

Ökonomisch hat die Türkei kaum eine Alternative zur Anbindung an die EU. Hinzu kommt, dass für große Teile der türkischen Eliten Europa nicht allein eine ökonomische, sondern auch eine ideologische Frage ist. Eine EU-Mitgliedschaft gilt als adäquater Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses und als Mittel gegen die Islamisierung des Landes. Dabei jubeln selbst die Islamisten bei der Aussicht auf einen EU-Beitritt mit. Noch 1997 hatten sie den Beschluss von Luxemburg genüsslich als Bestätigung ihrer Ansicht gewertet: Der Platz der Türkei sei aus religiösen Gründen nicht in Europa, sondern in der islamischen Welt.

Der Umschwung der Islamisten ist taktischem Kalkül geschuldet. Nachdem das Militär Islamistenchef Necmettin Erbakan von der Regierung verdrängte hatte, wurden die Wohlfahrtspartei (RP) verboten, Erbakan und weitere Spitzenfunktionäre mit einem Politikverbot belegt und wegen versuchtem Umsturz der laizistischen Ordnung vor Gericht gestellt. Im anhängigen Prozess droht ihnen die Todesstrafe.

Die Islamisten sind in Bedrängnis und versprechen sich von der EU-Kandidatur, dass der kemalistische Staatsapparat in seiner antiislamistischen Offensive gebremst würde. So erklärte der Vorsitzende der Tugendpartei (FP), der RP-Nachfolgeorganisation, Recai Kutan, dass zu den europäischen Standards die Gewährleistung der Glaubens- und Organisationsfreiheit gehöre. Da die Mitgliedschaft im europäischen Club auf absehbare Zeit nicht ansteht, wollen sich die Islamisten bis auf weiteres den Status der EU-Kandidatur zur Abwehr staatlicher Maßnahmen zu Nutze machen.

Auch die PKK hatte früher jedes Hofieren der EU mit der Türkei als Kollaboration mit dem faschistischen Staat abgelehnt. Nun ist für die PKK die Türkei nicht mehr faschistisch, dennoch sind bislang die Friedensappelle Abdullah Öcalans ohne spürbare Wirkung verhallt. Allmählich wird auch die eigene Basis ungeduldig. So hat die PKK-Führung Anfang des Jahres erstmals zugegeben, dass sich einige mit dem Friedenskurs unzufriedene Guerillaverbände von der Organisation gelöst haben.

Da der türkische Staat von sich aus nicht gewillt ist, einer politischen Lösung zuzustimmen, liegen nun alle Hoffnungen der PKK auf Europa, da die Kopenhagener Kriterien schließlich die Achtung von Minderheitenrechten vorsehen. Öcalan erklärte, der Beschluss von Helsin-ki sei einzig auf die Friedensbemühungen der kurdischen Bewegung zurückzuführen. Ob aber die Äußerung von Mesut Yilmaz, der Weg der Türkei nach Brüssel führe über Diyarbakir, mehr ist als taktisches Kalkül, darf noch bezweifelt werden.

Konfusion im Verhältnis zur EU herrscht allein bei der Linken vor. Übereinstimmend wird analysiert, dass die veränderten geopolitischen Interessen der EU zu dem Beschluss von Helsinki geführt haben. Aber zur Frage der Konsequenzen für die Linke gehen die Meinungen auseinander.

Bei den Linkskemalisten überwiegt die Vermutung, die EU beabsichtige nicht wirklich, die Türkei aufzunehmen. Ein EU-Mitglied Türkei, so etwa Erol Manisali in der Tageszeitung Cumhuriyet, wäre nach Deutschland das bevölkerungsreichste Land der EU und hätte Anspruch auf eine entsprechende Repräsentation in den EU-Gremien. Man könne aber nicht davon ausgehen, dass die anderen EU-Staaten freiwillig ihre Plätze zu Gunsten der Türkei räumen werden. Auch die Finanzmittel, die Ankara zustehen würden, sowie die zu erwartende Migration sprechen dagegen, dass die EU die Türkei jemals als Vollmitglied aufnehmen würde.

Hinter dieser berechtigten Skepsis über die Chancen der Türkei verbirgt sich der Vorwurf an die türkische Regierung, sie habe in der Zypern-Frage und in der Ägäis das nationale Interesse verkauft. In den meisten Kommentaren in Cumhuriyet wird bemängelt, die Türkei gebe nationale Souveränitätsrechte an die EU ab und werde zum militärischen Außenposten der EU. Ohne sich explizit gegen eine Mitgliedschaft auszusprechen, lautet die Forderung, die Türkei dürfe nicht auf äußeren Druck, sondern müsse aus eigenem Willen die Demokratie-Defizite überwinden. Welche gesellschaftliche Kraft zur Zeit dazu in der Lage sein soll, wird nicht erwähnt.

Ablehnung wird vor allem im Umfeld der illegalen Gruppierungen - das sind jene mit den vielen Kürzeln - geäußert. Die EU, so ist hier zu vernehmen, sei Agentur des Imperialismus; der nun bevorstehende Prozess der Angleichung an EU-Normen werde zu Lasten der werktätigen Klassen gehen; die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes sei illusorisch, da ein schwaches kapitalistisches Land wie die Türkei stets einen repressiven Staatsapparat benötige. Schließlich habe die Türkei auch andere Konventionen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet, ohne dass dies je Auswirkungen auf die Verhältnisse im Land gehabt habe.

Keine abwegige Kritik, aber eine, die an der eigenen Alternativlosigkeit scheitert - will man den Sieg der proletarischen Revolution nicht als ernsthafte Option durchgehen lassen. Und: Die Türkei ist durch die Zollunion ohnehin den meisten ökonomischen Nachteilen einer EU-Mitgliedschaft unterworfen.

Zwar ist von der Zollunion der Agrarsektor ausgeschlossen, aber auch ohne eine Vollmitgliedschaft sind Umstrukturierungen in der Landwirtschaft und die damit verbundene Freisetzung von Arbeitskräften kaum zu umgehen. Derzeit sind vier von zehn Türken in der Landwirtschaft tätig und erwirtschaften dabei einen Anteil an der Bruttowertschöpfung von nur 16 Prozent. Fraglich ist auch, welche Überlebenschancen die noch in Staatseigentum befindlichen Betriebe hätten. Tatsächlich würde eine EU-Mitgliedschaft für die »Werktätigen« keine Probleme mit sich bringen, die nicht auch so zu erwarten sind.

Waren die EU und mehr noch die USA während des Kalten Krieges an stabilen Verhältnissen in der Türkei interessiert, so dass die Abwehr des Kommunismus den Ausbau des türkischen Sicherheitsapparats rechtfertigte, so liegen heute ihre Interessen in einer Befriedung der Situation. Bedingung hierfür ist die Gewährleistung demokratischer Normen. So lange aber imperialistische Interessen eine Verbesserung der politischen Verhältnisse bedeuten - und die Frage, ob man bei jeder Festnahme das Risiko eingeht, geschlagen, gefoltert, ermordet zu werden, ist eine Frage ums Ganze -, hat die Linke keinen Grund, sich gegen die EU-Mitgliedschaft zu stellen.

Ein Blick in die Publikationen dieser Gruppen, in denen seitenlang Menschenrechtsverletzungen angeprangert werden, verdeutlicht das Dilemma linksradikaler Poltik in der Türkei. Wenn Antiimperialismus sich nicht am Inhalt, sondern an der Form orientiert, reduziert er sich auf blanken Nationalismus.

Dabei räumen auch linke Befürworter einer türkischen EU-Mitgliedschaft, etwa aus dem Umfeld der Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), ein, dass die zu erwartende Demokratisierung begrenzt bleiben würde. Allerdings sei das Modell der Entwicklung durch Abkopplung historisch überholt. Antiimperialismus bedeute, so Erdogan Tatlav in der ÖDP-nahen Wochenzeitung V-Özgürlük, nicht länger die Trennung einzelner Gebiete vom imperialistischen Zugriff, sondern den transnationalen Kampf innerhalb des imperialistischen Systems. Schließlich sei die EU nicht nur eine Organisation kapitalistischer Interessen, sondern stehe auch für historische Errungenschaften, wie sie sich in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte widerspiegele.

Ähnlich drückt es der Publizist Oral Çalislar, der ebenfalls für Cumhuriyet schreibt, aus: Zwar sei die EU ein kapitalistischer Verein, aber unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeute eine EU-Mitgliedschaft der Türkei eine Verbesserung des Rahmens für soziale Kämpfe. Im Übrigen liegen die Hauptprobleme des Landes, so Çalislar, im Mangel an bürgerlich-demokratischen Rechten. Die Linke müsse ihre nationalistischen Ressentiments überwinden.