Rache statt Rücksicht

Öcalans Todesurteil ausgesetzt

Der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel hatte Glück. Die faulen Eier klatschten am vergangenen Donnerstag nur gegen das Auto seiner Leibwache. Trotzdem wirkte der »Baba« der Nation beim Begräbnis des im Südosten der Türkei gefallenen Unteroffiziers angespannt. Er wusste längst, wie der Regierungsgipfel sich in der Frage des Todesurteils gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan entscheiden würde. Solche wichtigen Beschlüsse werden in der Türkei nicht der Politik überlassen. Und die Angehörigen des getöteten Soldaten sowie die angereisten Hooligans der rechtsextremen Partei der nationalen Bewegung (MHP) wussten es auch. Neben faulen Eiern regnete es wütende Parolen: »Hängt ihn auf«, »unser Blut darf nicht auf der Erde vertrocknen«.

Am Freitag gab die Regierungskoalition von Ministerpräsident Bülent Ecevit ihre Entscheidung dann bekannt: Die Hinrichtung Öcalans wird ausgesetzt, bis der Europäische Gerichtshof sein Urteil verkündet. Für die an der Koalition beteiligte rechtsextreme MHP unter Devlet Bahceli bedeutet die Zustimmung eine Kehrtwende. In der Folge wurde die Parteizentrale der MHP von Anhängern mit Schmähfaxen und Drohanrufen überhäuft. Hass und Bitterkeit überwiegen in der öffentlichen Diskussion seit der Festnahme Öcalans. Das gesamte Kurden-Problem wird auf die Person Öcalans fokussiert.

Viele Betroffene wollen die versprochene Hinrichtung, Rache statt Rücksichtnahme auf die Anforderungen für eine EU-Mitgliedschaft in ungewisser Zukunft. Denn für den Großteil der Türken ist klar, dass Öcalans Hinrichtung aufgeschoben wurde, weil die Regierungschefs es sich mit Europa nicht verscherzen wollen.

Viel zu spät hatte Regierungschef Ecevit damit begonnen, die Debatte auf eine allgemeine Diskussion der Todesstrafe zu lenken. Am Donnerstag erklärte er noch einmal vor dem Justiz-Kongress in Ankara, dass die Todesstrafe kein zeitgemäßes Strafmaß mehr sei, nicht in das neue Jahrtausend passe und eine Schande für eine moderne Demokratie darstelle.

Diese Argumentation ist der Öffentlichkeit in einem Land, in dem Wehrdienstleistende als Kanonenfutter in den Bergen eingesetzt werden, kaum Rechtssicherheit besteht, Folter und Polizeiexekutionen existieren, fremd.

Es ist auch wenig hilfreich, eine Diskussion um die Todesstrafe in der Türkei ausgerechnet an der Person Abdullah Öcalans festzumachen. Die Tragik dieser Situation betrifft vor allem die kurdische Bewegung. All die verschiedenen Organisationen werfen inzwischen ihre alten politischen Forderungen über Bord und verwandeln sich in eine einzige Aktion - zur Rettung Abdullah Öcalans.

Eigenartigerweise kommen dabei die Stellungnahmen fast ausschließlich vom »großen Führer« selbst. Der Mann gebärdet sich inzwischen als Martin Luther King der Kurden und bereut »alte Fehler«. Die verschiedenen kurdischen Organisationen lassen sich das gefallen und versäumen es, die Diskussion selbst in die Hand zu nehmen: Statt die vielen Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wettern sie lediglich gegen die Hinrichtung Apos.

Und auch die Europäische Union stößt mit ihrer inkonsequenten Politik auf Skepsis. Mit erhobenem Zeigefinger wird dort die Abschaffung der Todesstrafe angemahnt. Auf ähnliche Weise hatte die EU vor fünf Jahren die inhaftierten Abgeordneten der prokurdischen Demokratie-Partei (DEP) instrumentalisiert. Ihre Freilassung sollte damals Bedingung für die Zollunion der Türkei mit Europa sein. Schon ein Jahr später wurde die Bedingung fallen gelassen. Wirtschaftliche Interessen überwogen. Die kurdischen Abgeordneten sind heute noch in Haft.

Ironischerweise könnten es am Ende die türkische Wirtschaft und Industrie sein, die politische Reformen effektiv einfordern. Die türkischen Unternehmer haben ein handfestes ökonomisches Interesse an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Der Unternehmerverband unterbreitete am Wochenende ein Programm zur Demokratisierung, das vorsieht, die Militärs politisch zu entmachten und dem Verteidigungsministerium unterzuordnen, sowie Kurdisch in den Schulen zu erlauben, kurdische Medien zuzulassen und die Todesstrafe abzuschaffen. So deutlich hat dies in den vergangenen Jahren keine Organisation und auch keine Stimme aus Europa mehr gefordert.