Am Ende aller Welten

Im »Schwarzbuch Kapitalismus« beschreibt Robert Kurz das Ende der Marktwirtschaft - und das Verschwinden ihrer Gegner.

Das »Schwarzbuch Kapitalismus« hätte kaum zu einem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Ein Jahrzehnt nach der Wende und im ersten Jahr des Kohl-Skandals liefert Robert Kurz einen »Abgesang auf die Marktwirtschaft«.

Von der Krise der bürgerlichen Demokratie und Marktwirtschaft war bei Kurz bereits in dem - ebenfalls bei Eichborn - erschienenen Buch »Kollaps der Modernisierung« viel die Rede. Das »Schwarzbuch« setzt Kurz' Anfang der neunziger Jahre formulierte These fort. Nicht der Realsozialismus sei damals mit einem erbärmlichen Röcheln dahingeschieden. Dessen Ende war vielmehr der Beginn einer viel umfassenderen Krise, an deren Ende der Marktwirtschaft selbst das Totenglöcklein läuten würde. Nur, die vermeintlichen Sieger ahnten nicht, dass sie die Generalprobe ihres eigenen Begräbnisses inszenierten.

Stattdessen lebten sie in der Überzeugung, dass die unsichtbaren Hände des freien Marktes das Instrument für alle Probleme seien. Würde der Liberalismus nun richtig angewandt, die realsozialistisch verwalteten Individuen sich überall in Bourgeois verwandeln, dann wäre der globale Fortschritt nicht mehr aufzuhalten.

Selbst die zahlreichen und sofort einsetzenden Rückschläge boten kaum Anlass für irgendwelche Zweifel. Verantwortlich für den ökonomischen Kollaps im Osten war schließlich die Unfähigkeit der Eliten, die Marktgesetze anzuwenden. Verantwortlich für das Elend im Süden waren korrupte Regime, die die traditionellen Strukturen nicht überwinden wollten. Und sogar in Asien verschliefen die einst vorbildlichen Kapitalisten ihre eigene Modernisierung und müssen nun bitter dafür büßen. Selbst schuld. Wenn die Realität der marktwirtschaftlichen Theorie nicht entspricht - um so schlechter für die Wirklichkeit, lautete die einfache Botschaft der Sieger.

Zehn Jahre nach dem endgültigen Sieg des Kapitalismus ist von den großen Versprechungen, die 1989 vielen noch so greifbar schienen, nicht viel übrig. Statt blühenden Landschaften tauchte zwischen Leipzig und Magdeburg Dr. Jürgen Schneider auf, statt des asiatischen Jahrhunderts kamen die lahmen Tiger. Im »Schwarzbuch« erscheint der endgültige Sieg des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts gleichzeitig als Höhe- und als Wendepunkt.

Noch nie hatte der Kapitalismus in einem solchen Umfang alle Lebensbereiche durchdringen können, noch nie funktionierte er so global. Gegen alle Widerstände wurde die Welt in den vergangenen Jahrhunderten der betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik unterworfen, eine ungeheure Produktivität entwickelt und riesige Reichtümer aufgetürmt.

Ob sich dies unter der autoritären Kontrolle des Staates vollzog oder aber auf privat-kapitalistischer Basis, spielte dabei nach Meinung von Kurz fast eine nebensächliche Rolle. Denn auch die realsozialistische Akkumulation sei nichts anders als der Versuch einer nachholenden kapitalistischen Entwicklung gewesen. Das Versprechen des Liberalismus, dass das egoistische Handeln des Einzelnen, vermittelt über den Markt, zum Wohle aller führen würde, hat sich als ebenso falsch erwiesen wie der Versuch, die Akkumulation gerecht zu planen.

Denn die Frage, warum der mit viel Schinderei und Elend verbundene Anstieg der Produktivität nicht in eine entsprechende Ausdehnung des Müßiggangs mündet, warum also immer weniger immer mehr schuften müssen, während der überflüssige Rest sehen muss, wo er bleibt, kann die Ideologie des freien Marktes nicht beantworten. Stattdessen zwingt der kapitalistische Weltmarkt mit ungeheurem Tempo zu permanenter Modernisierung, der immer weniger gewachsen sind.

Am Ende versagt diese Logik kläglich. Dem Paradoxon des Produktionsprozesses versuchen die Agenten des Kapitalverhältnisses mit der Flucht nach vorne zu entgehen. Keine Fusion scheint zu riskant, keine Deregulierung zu unsozial, wenn nur die Margen gesichert sind. Doch alle Versuche, den Profit durch Rationalisierung zu steigern, haben nur zur Folge, dass sie on the long run wieder fallen.

In seinem Buch »Das Zeitalter der Extreme«, das sich als eine Art Bestandsaufnahme des Kapitalismus lesen lässt, kommt der britische Historiker Eric Hobsbawm zu einem ähnlichen Schluss. Das »Goldene Zeitalter« war demzufolge vor allem ein großer Vorwärtssprung für die »entwickelten Marktwirtschaften«, »vielleicht 20 Staaten mit etwa 600 Millionen Einwohnern«. Und selbst diese Erfolgsgeschichte ist nur temporär und für zunehmend kleinere Bevölkerungsschichten gültig. »Wer braucht schon jene zehn Prozent der (US-) Bevölkerung«, fragt Hobsbawm, »deren realer Stundenlohn seit 1979 um bis zu 16 Prozent gefallen war?«

»Geschlossene Gesellschaft - für alle reicht es eben nicht« steht über der Eingangstür in das marktwirtschaftliche Paradies geschrieben. Die Entwicklungskraft ist schon längst umgeschlagen in zügellose Destruktivität.

Was aber geschieht, wenn die Tendenz anhält, wenn das ökonomische Desaster in Russland nicht irgendwelchen »Transformationsproblemen« geschuldet ist, sondern bereits die dauerhafte Perspektive zeigt? Was, wenn die Kriege im Kosovo und im Kaukasus keine Übergangsphänomene darstellen, sondern bereits die neue Ordnung sind? Wenn es keinen Fortschritt mehr gibt, sondern nur noch die Beschleunigung der bestehenden Katastrophen? »Wir leben in einer Welt, die gekapert, umgewälzt, entwurzelt wurde vom gigantischen ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Prozess der Kapitalismusentwicklung, der die vergangenen zwei oder drei Jahrhunderte beherrscht hat. (...) Wenn wir versuchen, das dritte Jahrtausend auf dieser Grundlage aufzubauen, werden wir scheitern. Und der Preis für dieses Scheitern, die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft ist die Finsternis«, bilanziert Hobsbawm im »Zeitalter der Extreme«.

Ironischerweise erweist sich der radikale Marktliberalismus gerade auf dem Höhepunkt seines Erfolges als sehr labil. Er hat sich konkurrenzlos durchgesetzt, von Buenos Aires bis nach Peking herrscht die grenzenlose Selbstverwertung des Wertes. Der Kapitalismus hat nur noch einen Feind: sich selbst.

Die Alternativlosigkeit des Kapitals scheint mittlerweile selbst dem bürgerlichen Feuilleton recht bedrohlich. Anders ist kaum die große Resonanz auf das »Schwarzbuch« zu erklären. Es wirft aber auch für die radikalen Kapitalismus-Kritiker eine zentrale Frage auf. Wenn der »größten Untergangssekte aller Zeiten« (Kurz) die Gegner abhanden gekommen sind, dann sieht es auch mit der antikapitalistischen Perspektive düster aus. Die abgekoppelten Gegenden des Weltmarkts fallen in vorkapitalistische Zustände zurück, in denen Warlords und Oligarchen regieren, während sich die happy few in den verbleibenden Zentren der Akkumulation verbarrikadieren. »Es gibt keinen emanzipatorischen Aufstand, aber alle bewaffnen sich«, schreibt Kurz am Ende seines Buches.

Doch wenn am Ende der Welt, wie wir sie kennen, statt dem Verein der freien Produzenten nur noch die Barbarei erkennbar ist, dann entfällt auch der Begriff des Fortschritts - und damit die Möglichkeit, überhaupt noch eine Logik in der Geschichte zu entdecken. Nur wenn ein Ursprung und ein Ziel schon vorausgesetzt wird, stellt sich Geschichte überhaupt als Prozess dar, in dem noch unterschiedliche Entwicklungsstufen in einen logischen Zusammenhang zu bringen sind.

Entfällt aber dieses Ziel, dann ist die Geschichte nichts anders als eine mehr oder weniger beliebige Abfolge unterschiedlicher Gesellschaftsformationen, die nachträglich nur eine Gemeinsamkeit erkennen lassen - ihren eigentümlichen Hang zum Untergang.

Der Kapitalismus-Kritiker steht damit ebenfalls vor einem Paradoxon. Er hat zwar Recht behalten; der konkurrenzlose Kapitalismus stößt an seine Grenzen und wird damit potenziell überwindbar. Allein, es nutzt nicht viel. Wenn dem Ende des Kapitalverhältnisses seine totale Herrschaft vorausgesetzt ist, dann wird auch der Kritiker überflüssig. Denn wer soll ihn dann noch hören?

Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Eichborn, Frankfurt/Main 1999, 816 S., DM 68