Atom-Ausstieg noch in diesem Jahrhundert

Dissens, Konsens, Nonsens

An der Parteibasis hoffen sie noch immer ein bisschen. Zwar mehr aus Gewohnheit und damit die Angst nicht so hochkommt, aber immerhin: »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach«. Ein Gerücht über verschärfte Sicherheitsauflagen für die Atomkraftwerk-Betreiber macht die Runde. Doch so richtig glaubt niemand daran. Wieso sollten sich die Konzerne darauf einlassen?

Also doch die Angst vieler Grüner, am Ende mit leeren Händen dazustehen. Und diese Angst ist begründet: Sollte der angestrebte Konsens mit der Atomwirtschaft scheitern, dann, so haben es SPD und Grüne vereinbart, werden sie auf eigene Faust handeln. Die für diesen Fall vorgesehene so genannte Dissens-Lösung sieht aber 30 Jahre Gesamtlaufzeit für jeden Atommeiler vor. Damit keine alten AKW vor der nächsten Bundestagswahl abgeschaltet werden müssen, soll diese Regelung erst im Jahre 2003 greifen. Stilllegungs-Bilanz von vier Jahren Rot-Grün wäre: vorher 19 Reaktoren am Netz - nachher noch immer 19.

Bundeskanzler Gerhard Schröder trifft am Freitag die Konzernchefs. Das Konsens-Angebot der Regierung sieht vor, dass die 30 Jahre zwischen den Betreibern gehandelt werden können. Geht also ein Kraftwerk früher vom Netz, kann ein anderes länger laufen. Vor elf Jahren wurde das AKW Neckarwestheim 2 eröffnet. Nach Dissens-Lösung also noch 19 Jahre Weiterbetrieb, nach Konsens wahrscheinlich 25 bis 30 Jahre. Ähnlich wäre es mit anderen Neu-Anlagen. Dafür würden aber einige kleinere Reaktoren noch vor der Wahl abgeschaltet, weil sich ihr Betrieb im liberalisierten Strommarkt nicht mehr rechnet. SPD und Grüne werden dann vom Einstieg in den Ausstieg jubeln. Dabei wäre z.B. Stade längst aus ökonomischen Gründen stillgelegt, bräuchte die Branche diese Kraftwerke nicht als Verhandlungsmasse.

Auch alle anderen angekündigten Veränderungen der atompolitischen Rahmenbedingungen bleiben sowohl bei Konsens als auch bei Dissens auf der Strecke: Erhöhung der Deckungsvorsorge, jährliche Sicherheitsüberprüfungen, Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung - alles vom Tisch.

Und schließlich genehmigte Jürgen Trittin letzte Woche im vorauseilenden Gehorsam die Wiederaufnahme der Castor-Transporte. Damit hilft er den AKW-Betreibern aus größter Not. Denn jetzt können die Behälter beladen und dann auf dem Kraftwerksgelände abgestellt werden. Damit ist die drohende Verstopfung vorläufig abgewendet.

Wahrscheinlich wird erstmal nur ein Castor-Zug rollen können. Mehr schafft die Polizei im Expo-Jahr nicht. Deshalb ist diese so genannte Transportbereitstellung auch illegal - weil zeitlich nicht befristet. Doch Trittin freut sich, denn die Genehmigung wird als realpolitische Wendung des einstigen Sturkopfes verkauft. Endlich - so schreiben die Zeitungen - ist er ein richtiger Minister geworden.

Das wird dann auch der einzige Spatz bleiben, auf dem grünen Parteitag Mitte März in Karlsruhe. »Atompolitisch sind wir gescheitert«, werden sie abends am Tresen sagen, »aber immerhin sind wir Regierungspartei.« Und dann, wie zum Trost: »Ohne uns wäre doch alles noch schlimmer.«

Schlimmer als was? Grüne sichern Laufzeiten von weiteren 25 bis 30 Jahren. Grüne entschärfen das Entsorgungs-Dilemma. Grüne lockern die Strahlenschutzverordnung. Grüne erklären Castor-Behälter für sicher.

Früher sagten viele in der Anti-Atom-Bewegung mit außerparlamentarischem Selbstbewusstsein: »Wir brauchen die Grünen nicht, um die Stilllegung durchzusetzen.« Jetzt sehen es manche anders: Die Grünen sind für den Atomausstieg dringend nötig - aber nicht auf Ministersesseln, sondern in der Opposition und auf der Straße.