Schnäppchen, Snobs und Sex

Gefährliche Orte LXXIX: Der Stuttgarter Platz im schönen Charlottenburg gilt als Hort der Prostitution. Deshalb lebt es sich dort gut, billig und sicher.

Der Stuttgarter Platz in Charlottenburg ist Legende. Erzählt man von seiner Wohnung und seinem Wohnen am »Schmuddel-Stutti« (B.Z.), so zucken ältere Menschen aus besser situierten Gegenden unweigerlich zusammen. »Gibt es dort noch Bordsteinschwalben?« kann man sie lüstern fragen hören, denn der Stuttgarter Platz gehört seit Menschengedenken zu den Orten der institutionalisierten Prostitution in Berlin. Früher gab es einen Straßenstrich, heute findet das Geschäft mehr oder weniger versteckt in Rotlicht-Bars statt.

Jürgen Drews lässt sich hier von Fotografen belegen, dass er noch in Tabledance-Bars gehen kann. Ein DGB-Chef soll hier, Gerüchten zufolge, zusammengeschlagen worden sein, als er nicht zahlen wollte, und musste daher bei offiziellen Anlässen für einige Zeit im Rollstuhl erscheinen. Ein bekannter Blödelclown geriet hier, auch wieder Gerüchten zufolge, unter den Verdacht, eine Prostituierte erwürgt zu haben. Ehemaligen Regierenden Bürgermeistern wurde hier über Wochen vergeblich von der Boulevardpresse aufgelauert. Und ein Holtzbrinck-Journalist ließ sein Leben, als er - nicht für Recherchezwecke, wie zunächst verbreitet wurde, sondern allein zur eigenen Vorteilsnahme - hier einkehrte und dabei mit einem hauseigenen Muskelpaket aneinander geriet.

Tagsüber merkt man solch ein verruchtes Treiben dem Stuttgarter Platz nicht an. Der Platz selbst ist eher eine Straße. Er liegt behäbig und verschlafen zwischen S-Bahn-Trasse und der Kantstraße, wird wie diese in der Hauptsache von osteuropäischen Geschäftetreibern am Leben gehalten. Und wer auf Schnäppchenjagd ist, kann hier gut einkaufen: Selbst wenn spottbillige Socken aus sein sollten, gibt es bestimmt günstige Tischdecken. Sind auch Tischdecken nicht mehr vorrätig, gibt es noch ein sehr interessantes Uhrenangebot und außerdem werden Töpfe, Töpfe und nochmals Töpfe feilgeboten. Die Wasserkocher sind gut, die Toaster von durchschnittlicher Qualität und die Korkenzieher immerhin brauchbar.

Der interessanteste Laden vertreibt in seinem oberen Stockwerk neben Töpfen und Bügeleisen russische Literatur und Videos und im unteren Teil neben Bügeleisen und Videos auch Schusswaffen. Meine liebste Schusswaffe trägt den Namen »8. Mai 1945« und zeigt auf der Verpackung einen lächelnden Sowjetsoldaten und die fliehende Deutsche Wehrmacht. Dann gibt es noch einen Fachhandel für Batterien, einen obskuren Modeladen und einen Imbiss, der regelmäßig zwischen chinesischer und japanischer Produktpalette wechselt.

Am Ende des Stuttgarter Platzes an der Wilmersdorfer Straße befindet sich ein stinkendes Toilettenhäuschen, zu dessen Besonderheiten es gehört, dass es offensichtlich nur von außen benutzt wird. Dann ist da noch ein großer Parkplatz, der mal ein Busbahnhof war, und nun integriert werden soll in das Neubauprojekt S-Bahnhof Charlottenburg, das darin besteht, den Bahnhof um gut 150 Meter nach Osten zu versetzen. Obschon es hier nichts zu retten gibt, verteidigt eine Bürgerinitiative den Parkplatz. Auf keinen Fall möchten die bürgerbewegten Anwohner weitere Geschäfte am Stuttgarter Platz sehen und bekämpfen deshalb ein obskures Hochhausprojekt. Andererseits scheint es, als ob nun wirklich niemand in diesen Teil des Berliner Westens investieren will. Zumindest tut sich seit Jahren nichts. Der Westen sei eben »der wahre Einheitsverlierer«, weiß man am Stand des Pommeskönigs den Zeigefinger routiniert zu schwingen, während man wissend die Augen rollt.

Am Westende des Stuttgarter Platzes gibt es tatsächlich Gediegenheit. Ein hervorragendes Feinschmeckergeschäft, einen Blumenladen und einen schönen Kinderspielplatz. Dort bemüht man sich sichtbar, dem angrenzenden und als besonders wohlhabend geltenden Stadtteil Wilmersdorf nachzueifern. Unter jenen, die ihr Feeling im Kiez mit »alles gutti am Stutti« beschreiben, gilt das schon beinahe als borniertes Strebertum. Als richtigen Teil des Stutti-Milieus werden die Snobs in den Café-Bistros am falschen Ende nicht anerkannt. Wer hier nicht auf Neukölln macht, ist kein guter Anwohner, sondern gehört nach Wilmersdorf oder ins Westend, den spießigen und noblen Teil Charlottenburgs.

Der Don des Stutti, ein Bordellkönig mit einer Vorliebe für extrem große und waschmittelweiße amerikanische Luxuslimousinen, weiß das. Er beklagt sich schon mal im Fernsehen, dass »die Russen« alles kaputt machen im Fickgeschäft. Denn »die Russen« hauen ihrer Konkurrenz nicht einfach auf die Schnauze, sondern würden immer gleich in der Gegend herummorden. Pfui!

Der mitfühlende Don des Stutti beschäftigt zugleich - zusammen mit seinen Kollegen - viele jener Frauen, deren Schicksal bei der Beurteilung der »Schmuddeligkeit« des Platzes kaum eine Rolle spielt. Es geht den Boulevardblättern, den »seriösen« Rechercheuren und ihren Abhängigen nur um den Inhalt der Pfuiworte, nicht darum, wie Fick, Bums, Vögeln, Pudern, Vaginal, Anal und Oral und »Küss mich« tatsächlich umgesetzt werden. Hauptsache Huch!

Die Bewohner finden das gar nicht so Huch! Sie fühlen sich eher beschützt. Denn für die abendliche Ruhe auf der Straße wird von den Luden gesorgt. Lederjacke tragen sie, breitbeinig stehen sie, die Haare kurz und dennoch fett eingeschmiert, und beim Dönermann verlangen sie immerzu eine doppelte Portion Fleisch. Sie stehen vor den Läden, die »Bonbon Bar«, »Sissi Bar« oder »Stutti Frutti« heißen, und fordern die gebückt und betont gelüstlos Vorübergehenden auf, doch einzutreten ins parfümschwangere Sexelend.

Für die Anwohner sind sie ein regelrechtes Glück. Beispiel: Ein marodierender Betrunkener, wie man ihn in keinem Kiez gerne sieht, kommt die Straße entlang getorkelt und ruft laut Unverständliches. Sofort kommen aus einer Bar zwei Türsteher heraus, steuern entschlossen auf den Trunkenbold zu, greifen ihm rechts und links unter die Arme und drehen ihn um. Dann schleppen sie den, jetzt selbstredend verstummten Hansel um die nächste Straßenecke. Sie bringen den doch nicht etwa um? Nein, schon kommen sie wieder zurück, nicken einem beim Vorübergehen höflich zu - schwer männlich ohne ein Lächeln - und schreiten weiter. Und wer dann vorsichtig um die Ecke nach dem Ruhestörer lugt, verspürt Beruhigung: Der Mann torkelt jetzt, schon wieder laut werdend, in eine andere Richtung weiter. Aber am Stutti herrscht Ruhe! So ersetzen die Breitschultrigen längst die Kontaktbereichsbeamten der Polizei.

Im Gegenzug beschränken sich die grün uniformierten Ordnungshüter höflich auf drei bis vier Razzien pro Jahr. Sonst lassen sie sich meist nur blicken, um auf dem berüchtigten Parkplatz bevorzugt Polen zu kontrollieren. Das ist nur selten lustig. Einmal allerdings lief ein Türsteher zu nicht geahnter Größe auf. Während sich auf der Bahnhofsseite des Platzes Schaulustige sowie Polizei- und Krankenwagen tummelten, was darauf schließen ließ, dass sich jemand der S-Bahn geopfert hatte, wäre ich fast in einen dieser türgroßen Türsteher gelaufen. Der reagierte gelassen wie ein Geschäftsmann: »Da Tod, hier Leben.«