Stimme des Volkes

Der ukrainische Präsident Kutschma steuert ein autoritäres Präsidialsystem an. Mit einem Referendum soll das durchgesetzt werden.

Es ist normal, dass die Mehrheit die Macht im Obersten Sowjet kontrolliert. Die linke Opposition muss sich nicht fürchten, niemand will ihren Abgeordneten ihr Mandat rauben«, fasste Leonid Krawtschuk, Koordinator der rechten Parlaments-Mehrheit und bis 1994 Präsident der Ukraine, die vergangene Parlamentswoche zusammen.

Es war eine turbulente Woche - in deren Mittelpunkt die in der Vergangenheit immer wieder gescheiterte Einigung der rechten Parlamentarier stand: unter Führung von Krawtschuk - und mit Unterstützung einiger Überläufer aus der Kommunistischen Partei, der größten Fraktion im Obersten Sowjet. Mit durchschlagendem Erfolg: Die neue Mehrheit - rund 240 gegenüber etwa 180 Abgeordneten - wählte als erstes die Parlamentsführung unter Olexander Tkatschenko ab. Nachdem sich dieser zunächst noch geziert hatte, von seinem Posten zu lassen, zog die rechte Deputiertenmehrheit kurzerhand aus dem Parlamentsgebäude aus und hielt eine Sitzung unter Ausschluss des Parlamentspräsidiums ab - im ehemaligen Lenin-Museum.

Tkatschenko bat daraufhin den russischen Duma-Führer Gennadi Selesnjow von der Kommunistischen Partei Russlands und den Chef des Föderationsrats Jegor Strojew um Hilfe. Gleichzeitig richtete er einen Appell an den Europäischen Rat - zum »Schutz des Parlamentarismus in der Ukraine«.

Die beiden russischen Politiker verurteilten das Vorgehen in Kiew zwar als undemokratisch, aber weiter passierte nichts. Außer, dass ihn einige Deputierte der Rechten der Kollaboration mit Moskau bezichtigten. Der - nunmehr ehemalige - Parlamentschef hatte sich schon früher als Anhänger einer engen Kooperation der Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu erkennen gegeben. Das ist das politische Ende Tkatschenkos, kommentierte man in Kiew.

Doch Krawtschuks Kraftakt, die Dominanz der Kommunisten im Obersten Sowjet durch die Einigung der Rechten zu brechen, könnte vergebliche Müh' gewesen sein. Denn Präsident Leonid Kutschma hat noch ganz anderes vor. Ihm scheint die Macht des Parlaments grundsätzlich zu groß und dem so genannten nationalen Wohl schadend. Deshalb sollen die Wähler im April in einem Referendum unter anderem über das Recht des Präsidenten zur Auflösung des Parlaments befinden: Zwar sei, so Kutschma, die Bildung einer Pro-Präsidenten-Mehrheit der Deputierten gelungen, doch würde dies die Kontinuität »der Reformen« nicht sichern.

Bei Annahme des Plebiszits würde sich das System von einer präsidial-parlamentarischen zu einer autoritär-präsidialen Republik verschieben. Und das, nachdem der Westen noch vor drei Monaten die Wiederwahl Kutschmas unterstützt hatte - als Garant für Demokratie und Marktwirtschaft in der Ukraine.

Krawtschuk ist - wer hätte es gedacht - Gegner des von Kutschma initiierten Referendums und der daraus wahrscheinlich folgenden Neuwahlen. »Wofür ein Referendum machen? Man hat keine Garantie, dass das neue Parlament besser wird als das derzeitige. Wir sollten bis zum Ende der Legislaturperiode 2002 arbeiten«, meint Krawtschuk.

Doch zunächst einmal steht Anfang Februar die Wahl des neuen Parlamentschefs an. Inoffizieller Kandidat ist Krawtschuk. Bisher ist jedoch nicht bekannt, ob er für seine Kandidatur die Unterstützung Kutschmas gewinnen kann. Vor zwei Wochen wählte eine Pro-Präsidenten-Mehrheit zwar den ehemaligen Zentralbankchefs und »Reformers« Wiktor Juschtschenka zum Premier - allerdings nur mit hauchdünner Mehrheit.

Kutschma sind die Mehrheiten zu knapp und labil - und Krawtschuk offenbar auch. So scheint Kutschma die unaufgeforderte Zuarbeit von Krawtschuk gar nicht so recht zu sein, zieht er sich doch damit einen neuen Konkurrenten im Machtkampf heran.

Der Konflikt zwischen Präsident und Parlament dauert schon seit Jahren. Zuletzt votierten die Parlamentarier gegen die von Kutschma eingebrachten Gesetze zur Privatisierung des Bodens und zur Verwaltungsreform. Die Deputierten blockierten die Verabschiedung des Haushalts 2000, obwohl der eine der Bedingungen für Kredite westlicher Geldinstitute gewesen wäre. Seit seiner Wiederwahl im November letzten Jahres regierte der Präsident eigentlich nur noch mit Dekreten.

Im Umfeld Kutschmas spekuliert man auf einen Kantersieg beim Referendum und den Parlamentsneuwahlen. Das scheint möglich, da die heute in der Ukraine existierenden Parteien in der Mehrheit schwach sind. Schon im Dezember hat die Oligarchie, die die Kampagne des Präsidenten finanziert, gleich vier Pro-Präsidenten-Parteien aus dem Boden gestampft - von nationalistischen bis sozialdemokratischen. Die Präsidenten-Clique hat riesige finanzielle Ressourcen und ist im Stande, sich jederzeit Zugang zu den Medien zu verschaffen, insbesondere zum Fernsehen.

Die größten Gegner des Kutschma-Lagers werden - ähnlich wie bei den letzten Wahlen - die Kommunisten sein. Im November gelang es Kutschma, sie zu besiegen - nicht zuletzt dank großangelegter Kampagnen in den Massenmedien. Auch für das Referendum hat Kutschma schon die nötigen Hebel in Bewegung gesetzt: In sämtlichen Nachrichten des staatlichen Fernsehens UT1 läuft »die Stimme des Volks«. In ihr preisen Bergarbeiter, Kolchosniki und Lehrerinnen die Idee des Referendums.