Normal ist die Moral

Keine Angst vor Law and Disorder: Der Staat kann nicht zu Grunde gehen, weil wir eine freie Presse haben.

Unsere Demokratie funktioniert prima. Die Staatsanwälte ermitteln, die Journalisten recherchieren, der Spendenskandal der CDU wird aufgeklärt. Die Presse ist voll des Lobes der Presse. »Die deutsche Presse hat zum ersten Mal eigentlich ihre Aufgabe als Aufseher über die Mächtigen unisono ernst genommen«, schreibt Erich Böhme im Berliner Tagesspiegel. Die Süddeutsche Zeitung spricht von einem »Lehr- und Lernstück wie aus dem Staatsbürgerkundeunterricht, Abschnitt Pressefreiheit«. Und Rudolf Augstein meint im Spiegel: »Was die Journalisten tun, ist nichts anderes, als die praktischen und erfolgreichen Bemühungen der CDU zu entlarven, das Grundgesetz zu hintergehen.«

Doch wer sich heute brüstet, an der Aufklärung des größten Skandals der deutschen Nachkriegsgeschichte teilzuhaben, der lenkt davon ab, dass die »vierte Gewalt« sechzehn Jahre lang äußerst friedliebend war. Die Presse hofierte Helmut Kohl, solange er erfolgreich war. Jetzt, da sein Stern sinkt, wird er zur leichten Beute.

Die Berichterstattung zum Spendenskandal affirmiert das Bestehende, und das ist heute Rot-Grün, die Berliner Republik, die Neue Mitte. Früher hieß es Kohl, CDU und Deutschland. Nicht die Presse berichtet anders als in der Flick-Affäre in den Achtzigern, sondern die CDU ist nicht mehr an der Regierung. Die Art und Weise, wie Aufklärung betrieben wird, folgt einfachsten Schemata. Der Skandal wird personalisiert. Als böse Buben fungieren die mit dem Ruch des Zwielichtigen behafteten Personen, wie der Waffenhändler Schreiber oder der ehemalige CDU-Finanzberater Horst Weyrauch.

Schreiber, der »untersetzte Bayer mit den lebhaften Zwinkeraugen«, ist ein »gewiefter Geschäftmann« (Spiegel), Weyrauch gibt den »Geldschieber«, den »Herrn der schwarzen Kassen«, den »Drahtzieher«, Bekannte nennen ihn: »der Schakal« (stern). Über beiden thront die Verkörperung des Machtmissbrauchs: Helmut Kohl, der »Eisberg«, »der schwarze Riese mit der Riesenwaschkraft«, »der Schwarzkassierer«, »der große Hintermann« (stern). Und der »große Hintermann«, der eigentlich immer auf Vordermann war, wird pathologisiert: »Ist Kohl noch normal?« fragt der stern. Für den Wiedervereinigungs-Psychologen Hans-Joachim Maaz ist Kohl ein Mensch, der »Dominanz, Rechthaben und Rechtbehalten, Macht und äußere Stärke zur narzisstischen Regulation braucht« (stern,5/00).

Auf der anderen Seite mühen sich die »Aufklärer»: Angela Merkels Sympathiewerte sind gut, sie gilt als »schlagfertig, mit Charme und Witz«, eben eine der Politikerinnen, »die ihr Geschäft, die Politik, noch ernst nehmen« (Die Zeit, 6/00). Roland Koch kann ungestört an seinem neuen Image basteln, und während man Schäuble vorwirft, er verrate nur, was sowieso bekannt werde, und das nur »schäubleweise« (alle Zeitungen), kritisiert man nur das, was sowieso kritisiert wird. Man sehnt sich geradezu nach einer sauberen Weste im Land, die das Bild der guten alten CDU aufrecht erhalten könnte. Garniert wird das Ganze mit endlosen Reflexionen darüber, wer wann wieviel Geld von welchen Spendern in welchen Koffern entgegengenommen hat. Zeit für eine Grafik. Das Detail wird fetischisiert: Hat Schäuble die 100 000 entgegengenommen, oder war es Brigitte Baumeister? Ein Rücktritt, dann ist alles aufgeklärt. War irgendwas?

Kritik am System als solchem ist indiskutabel. Vor allem die Kritik an der Wiedervereinigung. Deswegen geht es weniger um Leuna, um Schmiergelder und Bestechung, sondern um »Fehler«, die Kohl gemacht haben soll, um Fragen der Ehre und der Moral. Die üblichen Experten werden befragt, ihre Aufgabe ist es, dem Publikum die Angst vor einer »Staatskrise« zu nehmen, bzw. jeglichen Zweifel an diesem Staat auszuräumen. Der durchschnittliche Experte zitiert Machiavelli und Platon und sagt in etwa: »Der Staat befindet sich mitnichten in einer Krise, alle Institutionen arbeiten normal, und die Demokratie wird gestärkt aus diesem Skandal hervorgehen. Wir brauchen auch die CDU und dürfen ihre Leistungen bei der Wiedervereinigung nicht vergessen. Aber die Parteienfinanzierung könnte reformiert werden, und ein Kanzler sollte nur zwei Legislaturperioden regieren.«

Während des Super-Gaus ist Entwarnung angesagt. »Das politische System Bundesrepublik ist in Ordnung - bloß die Politiker sind es nicht«, klärt der Spiegel auf (51/99). Nicht das System ist der Fehler, nur seine Politiker machen welche - weil sie auch Menschen sind wie du und ich. Die Presse, die sich selbst über alle Maßen lobt, will ihre Kritik keineswegs übertreiben. Der ehemalige Verfassungsrichter Hans Klein ermahnt: »Allzu schnell sind in unserer marktschreierischen Mediengesellschaft Begriffe wie Skandal, Unterwelt und Sumpf zur Hand, die geeignet sind und nicht selten dazu bestimmt zu sein scheinen, die Parteiendemokratie als solche zu diskreditieren.« (FAZ, 14. Januar) Wer jetzt die CDU zu sehr kritisiert, will Weimar. Was das für eine Demokratie sein soll, die eine korrupte Partei wie die CDU braucht, um Nazis aus den Parlamenten zu halten, bleibt ein Rätsel. Es geht ja sowieso nicht gegen Rechts. Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm warnt: »Eine geschwächte Integrationskraft rechts von der Mitte führt zum Ausfransen links von der Mitte« (stern, 5/00).

Der Pluralismus ist sich einig wie eh und je. Es geht um Moral und Ehre, die Parteien und den Staat, nicht aber um den Einfluss der Wirtschaft auf die deutsche Politik. Es ist die große Zeit der »Moralforscher« (Focus). Helmut Markwort, Chefredakteur des Focus, beschwert sich: »Die Täter schämen sich nicht nur nicht, sie sind auch noch beleidigt, wenn wir sie ertappen.« (Focus, 52/99) Wir vom Focus. Vielleicht herrscht bei den Tätern nur Unverständnis darüber vor, dass ihre Taten jetzt plötzlich aufgedeckt werden und dass gerade die sich so ereifern, die einem früher doch so wohlgesonnen waren.

Kohl dürfte die Frankfurter Allgemeine Zeitung abbestellt haben, die in der Spendenaffäre zum Überbleibsel des Gewissens der deutschen Konservativen geworden ist. Die FAZ formulierte die Anklageschrift: »Die Macht Helmut Kohls hat zerstörerische Wirkung auf eine demokratische Partei, beschädigt das Recht und den Glauben der Bürger an die grundsätzliche Redlichkeit der Angehörigen der politischen Klasse.« (12. Januar) Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der FAZ, reagierte heftig auf die dreiste antisemitische Lüge, das Schwarzgeld der hessischen CDU stamme aus »jüdischen Vermächtnissen«. Er zog die Notbremse, weil er wusste, dass offener Antisemitismus das Ende der CDU bedeuten könnte, zumindest ihre Spaltung. Gleich am Tag nach Schirrmachers Standpauke entschuldigte sich Schäuble vor laufenden Kameras.

Das Aufklärer-Image, das sich die bürgerliche Presse im Moment gibt, gehört zur zivilgesellschaftlichen Beschwichtigungsstrategie: »Aufklärung als Massenbetrug« (Horkheimer/Adorno). Die in Großaufnahmen überzeichneten Bösewichter Kohl, Weyrauch oder Schreiber werden austariert mit den neuen Guten aus der Neuen Mitte. Die Kritik an Schröder und Fischer ist verstummt, die Regierung kann weiter »Deutschland erneuern«.So kritisch sich die Presse heute gegenüber Kohl gibt, so unkritisch begleitete sie Schröder im Krieg gegen Jugoslawien.

Heute darf Wiglaf Droste Ex-Innenminister Manfred Kanther in der Berliner Zeitung einen »Herrenrassisten« und »das Gesicht der Gewalt« nennen (31. Januar). Was ja schön ist. Gestern aber wäre dies noch unmöglich gewesen. So geht nämlich Pressefreiheit. Man bringt die Leute dorthin, wo sie abgeholt werden wollen, bzw. man holt die Leute dort ab, wo man sie zuvor hingebracht hat. Mit dem Meinungsshuttle. Bitte einsteigen. Türen schließen. Und nicht weiter drüber nachdenken.