Streik um 35-Stunden-Woche

Postmoderne Zeiten

Der Streit um die 35-Stunden-Woche hat auch seine Vorteile: In Besan ç on bleiben derzeit die Briefkästen von Reklame verschont. Die dortigen Post-Angestellten haben eine neue Aktionsform gefunden: die »Selbst-Reduzierung der Arbeitszeit«. Eigenmächtig verkürzen die Postler dabei ihre Arbeit jeden Morgen um 20 Minuten. Um den service public möglichst wenig zu beeinträchtigen, tragen sie nur private Schreiben aus, Reklame lassen sie einfach im Postamt liegen.

Die »Aubry-Reform« zur Einführung der 35-Stunden-Woche gerät ins Stocken. Zunächst sah es so aus, als würde die Reform zu einem Deal zwischen modernisierungswilligen Kapitalkreisen und einem Teil der Gewerkschaften führen und mögliche Proteste damit einbinden. In der Praxis wurden die Beschäftigten jedoch oftmals mit Ergebnissen konfrontiert, die mit dem erhofften Fortschritt nicht viel zu tun hatten. Unmut entwickelte sich bereits in der Verhandlungsphase, da die Vorschläge der Arbeitgeber zumindest einem Teil der Belegschaft als Zumutung erschienen.

Seit dem Herbst 1999 spielt sich die Mehrzahl der Konflikte um die 35-Stunden-Woche in den öffentlichen Diensten und Betrieben ab. Die Regierung beruft sich auf das EU-Konkurrenzrecht, das ihr verbieten würde, die Einführung der 35-Stunden-Woche mit zusätzlichen Mitteln zu begleiten. Sonst drohe eine Sanktion durch die Brüsseler EU-Kommission wegen unzulässiger Subventionen.

Zusätzliche Mittel gibt es also nicht. Bei der Post etwa sollen nicht einmal zusätzliche Stellen entstehen. Rund 195 lokal begrenzte Streiks wurden daher im Januar bei den Postangestellten gezählt. Die »dezentralen« Abkommen, die eigentlich bis zum 1. Februar unter Dach und Fach sein sollten, kommen nicht voran, und nur zehn Prozent der Postler sind bisher zur 35-Stunden-Woche übergegangen.

In Besan ç on, einem der Zentren des Post-Widerstandes, sind die Beschäftigten deswegen schon Ende Januar vor das örtliche Polizeikommissariat gezogen - um Anzeige wegen »Diebstahls unserer Zeit« zu erstatten.

Doch nicht nur der Öffentliche Dienst wehrt sich gegen die 35-Stunden-Woche. Eine ganze Branche, die Lkw-Unternehmer, hatte Anfang Januar durch eine zweitägige Grenzblockade erreicht, dass das Aubry-Gesetz auf sie nur in abgemilderter Form angewandt wird.

Empört über die Vereinbarung zwischen KP-Transportminister Jean-Claude Gayssot und den Arbeitgeberverbänden, riefen die Gewerkschaften der Lkw-Arbeiter letzte Woche die Beschäftigten erneut zum Streik auf - rund 60 Straßensperren waren die Folge. Die Mobilisierung blieb aber zugleich deutlich hinter den großen Streiks vom Jahresende 1996 und vom Jahresende 1997 zurück.

Ein Grund für die schwache Mobilisierung ist zweifellos die Uneinigkeit darüber, ob man die 35-Stunden-Woche überhaupt fordern soll. Angesichts der extrem niedrigen Löhne und der scharfen internationalen Konkurrenz auf dem Sektor lehnen viele Beschäftigte die Arbeitszeitverkürzung ab. Sollte man nicht, wie viele Streikteilnehmer meinen, zunächst höhere Löhne fordern, bevor man über Arbeitszeitverkürzungen spricht? Nach der Ankündigung von Transportminister Gayssot, am vergangenen Dienstag, Lohnverhandlungen mit Arbeitgebern und Beschäftigten der Lkw-Branche zu eröffnen, wurde der Streik durch die Gewerkschaften CGT und CFDT abgeblasen.