Du sollst keine Idole haben!

Auf der Berlinale hatte die alte Sex-Pistols-Weisheit immer Gültigkeit. Diesmal sollte alles anders werden. Aber dann kam kein Star, sondern Leonardo DiCaprio.

Wie peinlich! So hat sich die 15jährige Nicole aus Berlin-Spandau die Berlinale-Eröffnung aber auf gar keinen Fall vorgestellt. Da hatte sie nun eine ganze Stunde lang am Potsdamer Platz gewartet, um endlich einmal Leonardo DiCaprio zu sehen, ihren absoluten Lieblingsschauspieler, und dann das. Kein Leonardo, der über den roten Teppich schreitet, kein Glamour, bloß viele mittelalte Deutsche, von denen sie noch nie gehört hat. Wie hätte sie auch ahnen können, dass DiCaprio keine Lust hatte, sich Wim Wenders' »The Million Dollar Hotel« anzusehen? »Ick komm' mir ja jetzt echt 'n bisschen dämlich vor«, sagt sie, »wenigstens hab' ich nich' so'n Plakat wie die da vorne dabei und werd' deswegen nicht so blöde angeguckt.« Naja, dann eben am Samstag, da wird der Star ja wohl kommen, denn dann hat »The Beach« Premiere.

Auf der 50. Berlinale, die neben dem runden Geburtstag vor allem den Umzug zum neu gestalteten Potsdamer Platz feiert, ist man ziemlich stolz auf die zentrale Location mit den vielen Kleinkinos. Manche Kritiker beklagen jedoch, dass die Filmfestspiele jetzt zwischen dem Sony- und dem Debis-Hochhaus stattfinden, ganz so, als sei die Gegend um den Zoo-Palast eine kapitalismusfreie Zone gewesen. Aber auch am Potsdamer Platz gilt: Nach dem Film ist vor dem Film, die Umgebung ist da eher unwichtig. Nur ein bisschen teurer als am Kudamm ist alles, aber eine Kirche gleich nebenan bietet einen Sonderservice für notleidende Festival-Besucher, es gibt dort »Mittagessen zum Selbstkostenpreis« und nachmittags Kaffee, Kuchen und Filmgespräche.

Die ARD hat Fahrrad-Rikschas organisiert, um die Presseleute umsonst zu den Kinos rund um den Potsdamer Platz zu transportieren. Deren Fahrer stehen jedoch meist nur herum und unterhalten sich, denn kaum jemand traut sich, eine Fahrt in den aufsehenerregenden Gefährten zu machen - obwohl offensiv um Kundschaft geworben wird. »Ich hab jetzt echt lang genug mit den anderen hier getratscht«, ruft einer der Kulis, »nun steig doch endlich mal einer ein!« Der Beförderungstest ergibt zwar einen klaren Pluspunkt wegen des Komforts, aber schneller als die Fußgänger ist man wegen des stauerzeugenden Gaffertums der Autofahrer auf keinen Fall. Denn die bremsen zu jeder Tageszeit vor dem Berlinale-Palast kurz ab. Schließlich scheint dort gerade etwas zu passieren, weshalb sonst stehen so viele Schaulustige hinter den Absperrgittern?

In Wirklichkeit passiert jedoch die meiste Zeit exakt gar nichts. Sat.1 hat einen Großbildschirm angebracht, wo Ausschnitte aus dem Frühstücksprogramm und ein paar Star-Ankünfte als Endlosschleife präsentiert werden, Journalisten rennen über den roten Teppich, ab und zu verliert einer seine Tasche, eine halbnackte Karate-Tanzgruppe wird für »Liebe Sünde« vor der Berlinale-Kulisse gefilmt. Den Zuschauern reicht das aber offenkundig, sie bleiben tapfer stehen. Doch, doch, das sei alles sehr interessant, versichert beispielsweise ein älteres Ehepaar aus Königs Wusterhausen, das extra angereist ist, um »mal ein bisschen Berlinale-Luft zu schnuppern«. Welche Filme die beiden sich denn noch ansehen wollen? Filme? Was ist das? Die beiden schütteln völlig entgeistert synchron mit den Köpfen.

Aber hätte ihnen »Sex - die Annabelle Chung-Story« gefallen? Die Pornodarstellerin Annabelle Chung ist die erste Weltrekordlerin im Männer-Ficken. 300 hatte sie sich vor zwei Jahren vorgenommen, 251 innerhalb von zehn Stunden sind es dann tatsächlich geworden. »Ich kann das nicht verstehen. Wenn Männer in der Kneipe damit prahlen, in ihrem Leben mit 500 Frauen geschlafen zu haben, dann wird das von der Gesellschaft akzeptiert. Als ich ankündigte, mit 300 Männern schlafen zu wollen, da wurde das auf einer völlig anderen Ebene rezipiert«, sagt Chung, die an der Universität von Cambridge Ethnologie studiert. Sie hoffe, »Frauen damit ermutigt zu haben, sich endlich auch so zu verhalten, wie ihnen gerade zumute ist.«

Die streng christlich erzogene Annabelle Chung aus Singapur kommt jedoch nicht so einfach mit ihrem Leben in der Porno-Industrie zurecht, wie sie am Anfang des Films glauben machen will - vielleicht auch gerade, weil sie eine branchenunüblich intelligente Frau ist. In einer späteren Einstellung ritzt sie ihren Arm mit einem Messer auf, »weil dadurch mein innerlicher Schmerz an die Oberfläche kommt«, in einer anderen erklärt sie sehr weitschweifig, warum sie die ausstehenden 10 000 Dollar für den Gangbang nicht vom Veranstalter einklagen möchte. »Warum sollte ich für etwas bezahlt werden, was ich so gern machen wollte«, sagt sie, während der Veranstalter sich ziemlich unverhohlen über sie lustig macht. Chung stieg kurz danach, als ihre Familie ihren Beruf entdeckte, aus dem Pornogeschäft aus, allerdings nicht für lange Zeit.

Nur eine Panne führt dazu, dass viele Journalisten »Rifleman of the Voroshilov Regiment« sehen. Denn im Programm ist für das Kino 7 die Datumszeile verrutscht, statt »Extension du domaine de la lutte« läuft dort nun der russische Panorama-Beitrag. »Ich dachte, so etwas passiert nur in Griechenland. Das hier ist aber Deutschland, da darf so was nicht vorkommen!« regt sich ein griechischer Journalist auf, während seine Kollegen lachen. Und nun eben diesen Film ansehen. Dessen Story - ein Mädchen, das von drei jungen Männern vergewaltigt wurde, wird vom Großvater gerächt - eigentlich nur ein weiteres Rape'n'Revenge-Movie verspricht. Aber die völlig unpathetische Studie über die »neuen Russen«, die glauben, sich dank ihrer Stellung alles erlauben zu können, und deren Widerpart, der alte Mann, ein verdienter Kriegsveteran, ist ein derart gelungenes modernes Märchen, dass es die Zuschauer von Anfang an begeistert.

»Yes!« animiert das Publikum den Großvater, der sich auf dem Schwarzmarkt ein Präzisionsgewehr kauft, »Gib's ihm!« feiert es den glatten Hoden-Durchschuss für den ersten Vergewaltiger, und nach 100 Minuten verlassen äußerst zufriedene Menschen den Kinosaal, in dem soeben die Gerechtigkeit gesiegt hat.

Vor der Pressevorführung von »The Beach« am Mittag haben sich vor dem Kino schon einige Teenager versammelt, die hin und wieder probekreischen. Denn jedes Fernsehteam hat sich vor einer anderen Mädchengruppe aufgebaut und animiert die, jetzt doch bitte noch einmal ganz laut »Kiiiieeks« zu machen. Kein Problem, »heute Abend, wenn DiCaprio dann wirklich kommt, sind die alle heiser!« lacht einer der Kameramänner.

Auch die Presse scheint von der Teenie-Begeisterung angesteckt worden zu sein. In einer regelrechten Stampede hetzt man die Treppen hoch, beim Konkurrenzkampf um die besten Plätze gewinnen die mit den schmutzigsten Tricks, und dann geht es endlich los.

Schon nach wenigen Minuten verlassen die ersten den Saal, denn da steht schon fest, dass es sich bei »The Beach« um einen ganz besonders belanglosen Film handelt. Die Geschichte um eine hippieske Kommune, die sich an einem Traumstrand fernab jeden Touristenaufkommens niedergelassen hat und die alles tut, damit niemand den Weg dorthin findet (»Stalinismus mit Aromatherapie« nannte das die Schauspielerin Tilda Swinton), ist nicht nur ein ziemlicher Unfug, sondern wird besonders von DiCaprio kongenial in Szene gesetzt. »Hippies, die vor dem Schwimmengehen erst noch ihre Badesachen anziehen, aaah«, sagt ein Journalist nach der Vorführung zu seiner Kollegin, die zuckt mit den Schultern: »Wenn's nur das gewesen wäre.«

Die überfüllte Pressekonferenz wird zum »Wer stellt die blödeste Frage, ohne rot zu werden?»-Wettbewerb. Was hält DiCaprio, der ja immerhin eine deutsche Großmutter hat, von Haider? Hat er sich auf die Badehosen-Szenen besonders vorbereitet? Wie viel Punkte auf einer Skala von eins bis zehn würde er der Sängerin von den All Saints geben, mit der er letztens bei einer Party eine Weile auf dem Klo verbrachte? Wird er Geld nach Albanien spenden? Hat er bei den Aufnahmen tatsächlich Gras geraucht?

Festivalchef Moritz de Hadeln selbst greift schließlich ein und erklärt, dass nicht nur DiCaprio in dem Film mitwirke und daher auch Fragen an Regisseur Danny Boyle und die anderen Schauspieler gestellt werden können. Ein leider völlig nutzloser Versuch. »My question goes to Leonardo« erklärt gleich darauf der nächste Journalist.

»Und, wie ist der Film?« Nicole ist natürlich auch heute da. Was soll man da nun sagen? Dass man wohl nur selten einen derart schlichten Mist zu sehen bekommt? Dass sich die Story und der Hauptdarsteller nix nehmen, was Taugtnix angeht? Dass das einzig Ansehenswerte an diesem Streifen die Hai-Attacken sind? Dass, mit Ausnahme von »Titanic«, spätestens seit Kevin Costners »Waterworld« auf allen Filmen, die am oder im Wasser spielen, ein Fluch lastet? Dass sie sich lieber den Dokumentarfilm über die Sex Pistols, »The Filth and the Fury«, ansehen sollte, dessen Hauptbotschaft, so John Lydon, es ist, keine Idole zu haben? Dass Leonardo Falten hat?

Nein, natürlich nicht. Der Mann ist schließlich fast ständig in Badehose zu sehen. »Okay, wenn man drauf steht.« Nicole nickt. Genau das hatte sie sich schon gedacht.