Prozess gegen Faschisten in Mailand

Mutter aller Massaker

Piazza Fontana, die achte: Seit zwei Wochen läuft in Mailand ein neuer Prozess, in dem das Massaker in der Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana verhandelt wird. Am 12. Dezember 1969 waren dort, im Zentrum Mailands, bei einer Bombenexplosion 16 Menschen ums Leben gekommen und über 100 verletzt worden.

Nach der Detonation setzte eine polizeilich-politische Kampagne gegen die außerparlamentarische Linke ein. Es wurden Spuren verwischt, schnell waren in der Presse Angehörige anarchistischer Zirkel vorverurteilt. Bei einer Vernehmung kam es zum »zufälligen Tod eines Anarchisten»: Giuseppe Pinelli fiel aus einem Fenster des Polizeipräsidiums. Leitender Beamter der Verhöre war der Kommissar Luigi Calabresi, dessen Ermordung 1972 einigen ehemaligen Funktionären der linksradikalen Lotta Continua (LC) 16 Jahre später zur Last gelegt wurde. Die Bestätigung der gegen die LC-Leute verhängten 22jährigen Haftstrafe im ebenfalls achten Prozess liegt nur wenige Wochen zurück.

Die Namen Pinelli und Calabresi tauchen seit über dreißig Jahren immer auf, wenn die offizielle Aufklärung der damaligen Geschehnisse stockt oder die Fakten wieder einmal neu interpretiert werden. Hatte man zuerst die äußerste Linke im Visier, die in den Arbeiterkämpfen des heißen Herbstes 1969 erfolgreich war, so musste unter dem Druck einer radikaldemokratischen Informationskampagne nach und nach die Verwicklung von Faschisten und putschfreudigen Kreisen aus Polizei, Heer und Geheimdiensten in das Attentat eingeräumt werden.

Durch die zahlreichen Anschläge, die in den siebziger Jahren eine Blutspur durch Italien zogen - allein bei der Explosion einer Bombe in Bologna gab es 85 Tote -, wusste man bald gut über die so genannte Strategie der Spannung Bescheid. Nur die Justiz sträubte sich lange und mit Erfolg, diesen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Sie verlegte die Prozessorte, verzögerte die Ermittlungen und setzte Anarchisten, Faschisten und Geheimdienstleute zusammen auf eine Anklagebank. Und sie reduzierte schließlich die unumgänglich gewordenen Verurteilungen von Faschisten und deren Hintermännern auf ein Minimum: 1985 und 1989 wurden alle damaligen Hauptangeklagten freigesprochen.

Doch da hatten bereits neue Ermittlungen begonnen. Richter Guido Salvini konnte sich auf Aussagen zweier Faschisten des Ordine Nuovo sowie auf Aktenfunde einer Geheimabteilung des Innenministeriums stützen. Seither ist klar, dass eine im Kalten Krieg aufgebaute staatliche Parallelstruktur unter US-Mitwisser- und vielleicht auch -Täterschaft faschistische Zellen instrumentalisiert und linke Aktivitäten fingiert hat. Durch Gewalt und Gegengewalt sollte dem emanzipatorischen Aufbruch der sechziger Jahre eine andere Richtung gegeben werden.

Nun ist der Prozess um »die Mutter aller Massaker« dorthin zurückgekehrt, wo alles begonnen hat. Zwar stehen heute mit den vier angeklagten Mitgliedern von Ordine Nuovo wahrscheinlich zum ersten Mal die Urheber des Anschlags vor Gericht, die wichtigste Person fehlt aber immer noch: Delfo Zorzi, der den Sprengsatz in die Bank gebracht hat, lebt als Geschäftsmann in Japan. Italien zögert seit Jahren, seine Auslieferung zu forcieren.

Und der Kronzeuge Carlo Digilio, ein Doppelagent, der seine Rolle für die Nato und bei Ordine Nuovo dem Staatsanwalt offenbart hat, wird heute, nach seinem Schlaganfall, in den Medien als »konfus« dargestellt. Zudem erscheinen Zorzi und Co. in der Anklage als Mittäter von zwei Faschisten, die in den zurückliegenden Gerichtsverfahren vom Vorwurf des Massakers freigesprochen wurden.

Sollten die Angeklagten diesmal verurteilt werden, gäbe es für sie deshalb die Möglichkeit, in Revision zu gehen und eine Aufhebung des Urteils zu erreichen. Dann bekämen die Faschisten, der Staat und die Nato ihre Absolution. Jedenfalls so lange, bis wieder einmal neu interpretiert wird.