Das Coming-out der Schwäne

Ein Mitläufer in stiller Opposition: Friedo Lampe hat den Nationalsozialismus unbeschadet überstanden, sein Roman »Am Rande der Nacht« nicht. Jetzt ist erstmals die Originalfassung mit ihren homoerotischen Anspielungen erschienen.

Die Publikationsgeschichte dieses kleinen, formal wie inhaltlich einigermaßen spektakulären und zugleich fast schüchternen Romans ist ein Skandal - und, als ob es dessen noch bedürfte, ein neuerlicher Beweis für die Kontinuität zwischen der jungen Bundesrepublik und der Nazi-Diktatur. Bereits einen Monat nach dem Erscheinen von »Am Rande der Nacht« (1933) wird die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums aufmerksam und lässt das Buch einstampfen.

Sein Verfasser Friedo Lampe, ein gebildeter, eher unpolitischer Großbürgersohn, Literaturhistoriker und Journalist, Mitherausgeber von Schünemanns Monatsheften, der im Dritten Reich als Bibliothekar, später als Lektor für Rowohlt und Henssel arbeitete und der kurz vor Kriegsende von Rotarmisten erschossen wurde, weil diese den abgemagerten Streuner, der vor Hunger keinen Ausweg mehr wusste, als sich zum »Amerikaner« durchzuschlagen, nicht mit dem Passbild in Übereinstimmung brachten und für einen »Werwolf« hielten - Lampe also schien schon vorher etwas zu ahnen. »Wie fandest Du ihn nun im Druck?« fragt er in einem Brief an seinen Freund Johannes Pfeiffer. »Sehr anstößig? Ich habe Angst.«

Aber Lampe hat noch einmal Glück, verliert nicht seine Anstellung an der Hamburger Bibliothek und darf mit »Septembergewitter« vier Jahre später sogar noch einen weiteren, nun allerdings unverdächtigen Roman veröffentlichen. Auch die Novellensammlung »Von Tür zu Tür« hätte ausgeliefert werden können, wenn bei einem Bombenangriff auf Leipzig 1944 nicht die Druckbögen verbrannt wären.

Nach dem Krieg - und post festum - bemüht sich der Freund Johannes Pfeiffer um die Popularisierung des Werks, das ja von der lesenden Öffentlichkeit bis dahin kaum wahrgenommen wurde. 1950 initiiert er einen Neudruck des verbotenen Erstlings, aus dem er nun aber alles Heikle, auch schon von den Nazis Inkriminierte herausstreicht. Diese arg verstümmelte Version ist von den Herausgebern des bald darauf erscheinenden »Gesamtwerks« (Rowohlt, 1955) übernommen worden, und selbst für die erweiterte Auflage 1986 machte man sich nicht die Mühe, den Erstdruck heranzuziehen.

Nun hat der Literaturwissenschaftler Johannes Graf dies nachgeholt und den Text in seiner ursprünglichen Gestalt restituiert. Was jetzt erst vollständig sichtbar wird, ist die homoerotische Unterströmung des Romans, die Pfeiffer so schamhaft und Fünfziger-verdruckst zu verbrämen suchte, wenn er seine Eingriffe damit begründete, dass Lampe »ihm gegenüber wiederholt betont« habe, »dass er, wenn es wirklich einmal zu einer Neuauflage kommen sollte, alles das beseitigen würde, was er als ein künstlerisch nicht bewältigtes Hervorbrechen pubertätshafter Anwandlungen empfinde«.

Es wimmelt hier nur so von verdeckten oder auch offenen Anspielungen auf die Homosexualität verschiedener Protagonisten: Ein Junge versucht seinen von ihm umschwärmten Spielkameraden in den Arm zu nehmen und wird wegen solchem »Mädchengetue« zurechtgewiesen; ein fast schon penetrant feminin gezeichneter Steward lebt mit seinem Kapitän in einer Art Sado-Maso-Beziehung; der Ringer Hein Dieckmann verliebt sich in einen seiner Gegner, den schönen Südländer Alvaroz, versucht sich ihm zu nähern und vergewaltigt ihn schließlich auf offener Bühne, weil seine Zärtlichkeiten nur auf Ablehnung und Verachtung stoßen. Das alles zeigt sich ganz unvermittelt. Aber es gibt durchaus auch stärker verschlüsselte Darstellungen. Zum Beispiel liest der Geografielehrer Hennicke seinen Söhnen aus einer Reiseerzählung vor, bricht aber ab - »errötend wie ein Junge, den man dabei ertappt, daß er noch mit einer Puppe spielt«. Und der vorgelesene Text offenbart dann auch, wenigstens subkutan, warum der Lehrer so verlegen reagiert: »Nur in ganz zarten Wellen kräuselte sich das Wasser am Strande, und man konnte durch die kristallklare Flut die kleinen rosa Muscheln, die Krebse und die wunderbar leichten Schleiergebilde der dahinfließenden Quallen sehen. Mein Freund Mayo, der jetzt schon ganz zutraulich war und mir mit seinem weißen Gebiß bezaubernd entgegenlachte, schwang seinen Speer und traf mit unglaublicher Sicherheit die vorbeistreichenden Riesenfische. Sein brauner, glänzender Körper war von fast griechischer Schönheit.«

Das klingt nach exotischer Gay-Phantasie. Die homoerotischen Motive schimmern allenthalben durch die Textoberfläche hindurch - und dahinter steht beim Autor wohl eher ästhetisches Kalkül als unbewusste Sublimierung. Lampe inszeniert hier literarisch sein Coming-out, und es scheint, dass er später Angst vor der eigenen Courage bekam und tatsächlich gegenüber seinem Freund eine Entschärfung der Texte anregte. Zumal er gegen das Verbot des Romans bei dem NS-Funktionär Wolfgang Herrmann Beschwerde einlegte, und zwar mit der Begründung, es sei dies doch nur eine möglichst unverfälschte Darstellung der eigenen Gefühle und Gedanken, und von Herrmann den gut gemeinten Rat bekommt, das mit dem Bekenntnischarakter seiner Erzählung mal besser nicht zu laut zu sagen.

Aber »Am Rande der Nacht« ist nicht nur als bisher unbekanntes Exponat einer schwulen Literaturgeschichte von Belang, sondern auch und vor allem erzähltechnisch interessant. Hier lässt sich eine zumindest für die deutsche Literatur noch frühe Reprise des polyperspektivischen, gleichsam panoramatischen und von der Struktur des Films beeinflussten Erzählens studieren, wie es John Dos Passos insbesondere mit »Manhattan Transfer« eine Dekade zuvor vorgeführt hatte. Lampe selbst hat noch während des Schreibprozesses in einem Brief an Johannes Pfeiffer eine zutreffende Charakterisierung dieser Narrationsmethode geliefert: »Laute kleine, filmartig vorübergleitende, ineinander verwobene Szenen. (...) Alles leicht und fließend, nur ganz locker verbunden, malerisch, lyrisch, stark atmosphärisch.«

Lampe gilt gemeinhin als »Mitläufer«. Er sei nicht gerade ein Sympathisant des Nazi-Regimes gewesen, urteilt Michael Scheffel im »Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur« (und so ähnlich auch Graf im Nachwort), aber: »Wie für viele dieser in der Republik von Weimar großgewordenen Autoren ist die 'Machtergreifung' 1933 auch für Lampe kein bewußt wahrgenommener Einschnitt und die Flucht in das Exil niemals ein ernsthaftes Thema gewesen.«

Der Autor selbst hätte diesem Verdikt möglicherweise widersprochen, zumindest was den unterstellten Mangel an politischer Wahrnehmungsfähigkeit angeht. Axel Eggebrecht gegenüber, der eine gewisse Affinität zur völkischen Ideologie bei Lampe vermutet, hat er sich einmal folgendermaßen verteidigt: »Er wehre sich auf seine Weise gegen die Barbarei, die sich als Neugeburt ausgebe. Er versuche gerade das zu retten, was die dröhnenden Barden totschlügen: die Differenzierung, das Individuum, gebrochene Charaktere, Verzweifelte.« Diese »stille Opposition«, wie Eggebrecht diese Haltung umschreibt, scheint sich bereits in diesem Erstling zu spiegeln, und wenn diese Lesart stimmt, hat er die Machtergreifung der Nazis durchaus als »Einschnitt« empfunden.

Der Roman beginnt mit der heimlichen Beobachtung von Ratten durch eine ebenso angewiderte wie neugierige Kindergruppe: »Scheußliche Tiere. Fast die widerlichsten Tiere, die es gab. (...) Und gingen sie nicht auf Menschen los?« Ihre apostrophierte Gefährlichkeit wird noch dadurch gesteigert, dass Lampe den Ratten stets Schwäne gegenüber stellt, die ihnen hilflos ausgeliefert sind. Es sind dies Chiffren, die offensichtlich über die Romanwirklichkeit hinausweisen sollen - wie Lampe denn auch in einem Brief konstatiert, dass »jede Einzelheit« in diesem Werk »ihren Sinn, ihre zeichenhafte Bedeutung« habe. Welche Bedeutung kann man den Ratten unterstellen? Der Text gibt weitere Hinweise. Sie lebten, heißt es, »wo das Wasser aufhörte, wo etwas Schlamm begann und dann die steile kurze Böschung mit brauner Erde und freihängenden Baumwurzeln. Da hausten diese Untiere nun. Weicher warmer Schlamm.«

Sie sind gefährlich und leben in einem »braunen« Milieu. Weiter unten berichtet ein Zeitungsartikel von einer Rattenplage, die man nicht unterschätzen dürfe. Denn: »Es handelt sich um eine ganz besonders kräftige und draufgängerische Rattengröße. Große hellhaarige Tiere (...).« Und im selben Artikel ist dann auch von »widerlich pfeifenden, schrill schreienden, blutgierigen Tieren« die Rede. Soll man sich da nicht an die grölenden SA-Horden erinnert fühlen? Und die nun an den Artikel geknüpfte Rede des Zeitungslesers mutet 1931/32, also bei Abfassung des Romans, schon beinahe prophetisch an: »Jetzt liefen sie noch ziemlich harmlos am Grabenrand und in kleinen Rudeln umher, aber sie vermehrten sich schnell, sie würden anwachsen, sie würden in die Stadt, in die Häuser dringen.«

Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob diese Interpretation triftig ist oder nicht. Aber einem Autor, der seinen Text auf so intrikate Weise homosexuell zu grundieren versteht, wird man auch eine solche literarisch verschlüsselte, eben »stille Opposition« zutrauen dürfen.

Friedo Lampe: Am Rande der Nacht. Roman. Hg. v. Johannes Graf. Wallstein Verlag, Göttingen 1999, 198 S., DM 36

Friedo Lampe: Am Rande der Nacht. Texte und Materialien. Hg. v. Michael Augustin. Wallstein Verlag, Göttingen 1999, CD, 70 Min., DM 29

Ein Autor wird wiederentdeckt. Friedo Lampe 1899-1945. Katalog der Lampe-Ausstellung. Hg. v. der Friedo-Lampe-Gesellschaft. Wallstein Verlag, Göttingen 1999, 92 S., DM 24