Die Grenze der Aufklärung

Robert Kurz' Versuch, mit dem »Schwarzbuch Kapitalismus« die Geschichte zu rehabilitieren, scheitert an Auschwitz.

Gegen eine »Historisierung« der von ihren postmodernen Apologeten als alternativloses »Ende der Geschichte« apostrophierten Marktwirtschaft ist selbstredend nichts einzuwenden. Spielt es da eine Rolle, wenn dies auf dem Boden einer Zusammenbruchstheorie geschieht, die, trotz der von Robert Kurz ausposaunten Überwindung des Arbeiterbewegungsmarxismus, fest in der marxistischen Tradition verankert ist? Deren gemeinsamer Nenner ist und bleibt die zuerst von Engels vollzogene, später nie zurückgenommene Popularisierung der Marxschen Wertkritik, insbesondere der Wertformanalyse, zum wissenschaftlichen Sozialismus. Wie dieser erheischt Kurz in seiner kritisch gemeinten Theorie der Wertvergesellschaftung kategoriale Eindeutigkeit auch noch dort, wo materialistische Kritik sich weigert, den an sich selbst unvernünftigen Gegenstand - die durch den Wert synthetisierte Gesellschaft - zu theoretisieren und so zu rationalisieren.

Zwar hat sich im »Schwarzbuch Kapitalismus« die optimistische Perspektive von einst, als Kurz noch auf der »Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel« - so der Titel des 1988 erschienenen »Manifests für eine revolutionäre Theorie« - nahezu alle sozialen und politischen Bewegungen als potenzielle Kraft für eine Alternative jenseits von Markt und Staat in Erwägung zog, verdüstert: »Die Weltkrise der Dritten industriellen Revolution trifft auf kein emanzipatorisches Subjekt mehr, das als gesellschaftliche Alternative mobilisierbar wäre.« Dennoch scheint ihn sein in den mahnenden Gestus eines Retters der Zivilisation transformiertes revolutionstheoretisches Erbe dazu zu bewegen, die Historisierung des vermeintlich geschichtslos gewordenen Kapitalismus als Beauftragter im Dienste der Vermittlung von Theorie und Praxis durchzuführen.

Weshalb sonst legitimiert er seine über weite Strecken lesenswerte Geschichte der schwarzen Seiten des Kapitalismus mit Sätzen wie dem folgenden: »Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muß zuerst die Geschichte rehabilitiert werden»? Dass dabei selbst noch die die »Grenze der Aufklärung« markierende Massenvernichtung der europäischen Juden in den Strom der »Modernisierungsgeschichte« eingereiht und damit zwangsläufig auch Auschwitz »rehabilitiert« wird, zeigt das eigentliche Problem der Kurzschen Historisierung.

Nicht umsonst sieht sich Kurz gezwungen, sich von rechten Ideologen wie Nolte, die ja ebenfalls allzu gerne historisieren und damit relativieren, durch das fragwürdige Argument abzugrenzen, er würde »genau anders herum wie Nolte« vorgehen. Kurz scheint der Ansicht zu sein, es genüge, den von Nolte als »übergreifendes Positivum« verstandenen Liberalismus »als die bloß mit Orwellschem Vokabular schöngefärbte Welt jener negativen und repressiven Zwangsvergesellschaftung durch die monströse 'schöne Maschine' der 'Verwertung des Werts'« darzustellen, um vor der Gefahr der Relativierung von Auschwitz gefeit zu sein. Kritik aber, die nur im Austauschen von Vorzeichen besteht, bleibt in einem System, das sich geradewegs durch solche Vorzeichenwechsel hindurch reproduziert, notwendig dem System selbst verhaftet.

Dass es mehr als bedenklich, bei einer »Rehabilitierung« der Geschichte jedoch unvermeidbar ist, auch Auschwitz als Durchlaufposten des zu sich selbst und damit an sein Ende kommenden Systems der Warenproduktion zu verorten, ahnt auch Robert Kurz. Und so scheint es, als würde sich der zu Gunsten einer Theorie der Wertvergesellschaftung verdrängte ideologiekritische Gehalt der Kategorien Wert, abstrakte Arbeit und automatisches Subjekt plötzlich Raum verschaffen, wenn die »negative Fabrik Auschwitz« in den »breiten Strom der Modernisierungsgeschichte« eingeordnet werden soll. Es scheint, als würde sich die durch Transformation der Marxschen Wertkritik in marxistische Werttheorie erschlichene kategoriale Klarheit rächen, wenn, »unbeschadet (der) Dimension der Singularität«, eine »negative Historisierung von Auschwitz« unternommen wird. Die ansonsten eher geradlinig vorgetragene Katastrophengeschichte des »Terrorsystems der abstrakten Arbeit« gerät offensichtlich ins Schlingern. Immerhin!

Einerseits, so Robert Kurz, müsse man Auschwitz aus der »Geschichte der Moderne« erklären. »Alle Grundelemente des Denkens, das zu Auschwitz geführt hat, entstammen dem breiten Strom der Modernisierungsgeschichte und ihrer Ideologisierung.« Auschwitz müsse deshalb neben dem Gulag und anderen Arbeits- und Konzentrationslagern als »in den Zwängen der kapitalistischen Produktionsweise« wurzelnd gesehen werden. Auch Auschwitz »war eine fordistische Fabrik, genau wie 'Volkswagen'«. Nur eben eine »negative Fabrik«, die äußerste Konsequenz des warenproduzierenden Systems, die »Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten«, so Moishe Postone, auf den sich Kurz hier bezieht. Andererseits will Kurz aber Auschwitz nicht in der Geschichte der Moderne verschwinden lassen und betont die Singularität: »Auschwitz als singuläre Tat war spezifisch deutsch.«

Dieses Wechselspiel von Einerseits und Andererseits zeigt, dass sich dem klassifikatorischen Denken des Werttheoretikers spätestens hier der Gegenstand entzieht. Anstatt aber das Dilemma zu benennen und das paradoxale Verhältnis, dem das Verbrechen Auschwitz entsprungen ist, als Paradoxie zu thematisieren, flüchtet sich Kurz in einen, seiner populären Fassung der Wertkritik entsprechenden, populären Jargon der Dialektik: »Wie der Antisemitismus im allgemeinen zum Nationalsozialismus im allgemeinen gehört, so gehört Auschwitz im besonderen zur deutschen Nation im besonderen.« Was will er damit sagen? Und was soll folgendes heißen: »Aber das Allgemeine und das Besondere sind immer verschränkt; das Besondere ist das Besondere eines Allgemeinen und das Allgemeine enthält das Besondere»?

Mit dialektischen Phrasen jedenfalls lässt sich das Dilemma, dass eine »negative Historisierung« sich von einer Historisierung wie bei Nolte der Form nach nicht unterscheidet, nur schwer verdecken. Gegen jeden Versuch der Historisierung von Auschwitz ist mit Detlev Claussen zu antworten: »Auschwitz erinnern«. »Von 'Auschwitz erinnern' sprechen wir deshalb, weil es dieser doppelten falschen Verallgemeinerung eines geschichtlichen Ereignisses entgegenzuwirken gilt. Auschwitz bezeichnet den Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung, zu der es keine Parallele gibt.

Die Erinnerung an Auschwitz kann allerdings den Blick schärfen für das, was nach Auschwitz kommt, für die Geschichte der mißglückten Befreiung.« Und diese Geschichte des Fortwirkens von Auschwitz im post-faschistischen Nachkriegsdeutschland sucht man im »Schwarzbuch« vergebens. Die Rede von der Singularität von Auschwitz bleibt so lange ein Lippenbekenntnis, wie versäumt wird, die erkenntniskritischen Konsequenzen zu ziehen, die die nationalsozialistischen Verbrechen dem Denken auferlegen - Konsequenzen, die dazu führen sollten, eine Historisierung von Auschwitz, sei es nun eine negative wie bei Kurz oder eine positive wie bei Nolte, kategorisch abzulehnen.

Der Text ist ein vom Autor leicht überarbeiteter Auszug aus einem Beitrag, der in der nächsten Bahamas (31/00) erscheinen wird. - Bisher erschienen zum »Schwarzbuch Kapitalismus»: Anton Landgraf (Jungle World, 5/00) und Thomas Kuczynski (Jungle World, 10/00). Die Diskussion wird fortgesetzt.