Talia auf der Treppe

Jacques Doillons »Petits Frères« sind schneller als die »Kleinen Strolche« und bewaffnet. Aber genauso unschuldig.

Hier läuft alles über Handlung. Jedes Gefühl, jede emotionale Bewegung muss sich sofort in eine Tat, in einen Diebstahl, eine Rauferei, das Besorgen einer Waffe, muss sich in Aktion übersetzen: Als Talia von ihrem neuen Freund Iliès zum Grab ihres Hundes geführt wird, reißt sie wütend Blumen aus dem Boden und Äste von den Büschen und wirft sie auf den kleinen Hügel. Es gibt keine Großeinstellung von ihrem Gesicht, das Trauer oder Zorn ausdrücken soll (über Iliès, der schuld daran ist, dass der Hund ermordet wurde), und auch keinen Dialog.

Iliès hatte den Hund in sein geliebtes Lacoste-Hemd eingewickelt, bevor er ihn begraben hat, als Zeichen für ein Eingeständnis seiner Reue, und das muss reichen, denn es ist ein sehr großes Opfer, und das sieht Talia, deshalb wird sie ihm verzeihen und ihn irgendwann einmal heiraten.

Was »Petits Frères« von der ersten Sekunde an vorantreibt, ist die Frage: Was passiert als nächstes? Dass pausenlos Handlung auf Handlung, Dialog auf Dialog folgt, verleiht dem Film eine atemlose Geschwindigkeit, fast wie in einer Screwball-Comedy oder einem Slapstick. Es fallen einem sofort »Die Kleinen Strolche« ein, nicht nur wegen des Filmplakats und des Titels oder wegen des Kringels um das Hundeauge. Auch wegen der Unschuld, in der hier ein Streich nach dem nächsten ausgeführt wird.

Nur einmal bricht der Film aus der Handlungslogik aus, der er sonst so unerbittlich folgt, nur einmal zeigt Talia einen Moment von Schwäche, und das ist gleichzeitig der merkwürdigste Augenblick der Erzählung: Weil sie Lösegeld für ihren entführten Hund auftreiben muss, fährt sie in die Innenstadt, folgt irgendeinem Paar in irgendein Mietshaus und raubt es mit gezogener Pistole in dessen eigener Wohnung aus. Danach aber passiert etwas, das einem den Atem stocken lässt: Statt nach unten läuft sie im Treppenhaus einen Absatz nach oben und setzt sich auf die Stufen.

Vorher - und auch wieder danach - ergibt sich in diesem Film jede neue Szene wie selbstverständlich aus der vorhergehenden: Talia streitet sich mit dem Stiefvater, also verschwindet sie zu einem Freund, der in den Vorstädten wohnt. Der Freund ist nicht zu Hause, da lernt sie die Jungs um Iliès kennen. Die sehen ihren Pitbull und sagen sich: »Damit lässt sich Geld machen.« Also stehlen sie den Hund und verkaufen ihn. Aber Iliès hat sich in Talia verliebt, also muss er ... und so weiter.

Den Film kann man mit einer Reihe von solchen Sätzen erzählen, mechanisch wie ein Uhrwerk, verbunden durch innere Zwangsläufigkeit. Bis man an diese Stelle kommt - »Statt nach unten geht sie einen Treppenabsatz nach oben und verharrt« -, und der Hochgeschwindigkeitsablauf sinnvoll aufeinander folgender Handlungen schlagartig unterbrochen ist. Die Zeit wird angehalten, und ein einziges Mal sehen wir Talia ins Gesicht, und wenn wir wollen, können wir in diesem Gesicht etwas wie Verzweiflung entdecken, aber der Film zwingt uns nicht dazu, nicht einmal hier.

Dabei fehlt es nicht an Gelegenheiten, Angst zu bekommen, um Talia und alle anderen, davor, dass es früher oder später einen Toten gibt, einen Wendepunkt, von dem aus ein wirkliches Drama oder eine Tragödie ihren Lauf nehmen müssten. Der Entwaffnungsversuch des Stiefvaters vor der Fabrik hätte fatal ausgehen können. Die Jungs vor der Gegensprechanlage, denen Talia auch wirklich hinterher schießt, hätten etwas abkriegen können. Ihr Raubzug steht auf der Kippe (um nur drei von vielen Möglichkeiten zu nennen). Aber am Schluss ist der einzige Tote in dem Film ein Hund, und das geht ja noch. Das eigentliche Drama des Films wird nicht als solches inszeniert, kommt gar nicht oder bestenfalls in einer Andeutung vor: der Missbrauch Talias kleiner Schwester Sabrina durch den Stiefvater.

Mit großer Klugheit konzentriert sich Doillon auf seine Hauptfigur. Einmal schießt Talia sogar durch eine Tür, hinter der ihr Stiefvater steht. Trotzdem verzichtet der Film darauf zu zeigen, was danach passiert. Es macht einfach »puff«, man sieht sogar noch das Einschussloch in der Tür, dann läuft Talia die Treppen runter, und das war's. Schnitt. Kein Geheimnis, auch später keine wartenden Polizisten.

Überhaupt spielt die Welt der Erwachsenen höchstens am (Bild-)Rand mit. Talias Mutter bekommt nur eine kurze Szene, in der sie kaum zu erkennen ist. Als Talia in der Nacht vor der Klingelanlage von zwei älteren Jugendlichen bedroht wird und sie noch einmal einen Schuss abgibt, schwenkt die Kamera auch nicht auf die Reaktion, auf panisch das Weite suchende Jungs, sondern sie bleibt bei Talia, wie sie ihre Knarre einpackt und sich wieder hinsetzt.

Der Verlobungsring ist ein weiteres Beispiel für Doillons Erzählhaltung - den steckt Iliès Talia nicht in einer Großaufnahme der Hände an den Finger. In einer Totalen brechen die Kinder gemeinsam irgendwohin auf, Iliès läuft schon weg, Talia bleibt zurück und freut sich noch kurz, dann rennt sie den anderen hinterher. Man hat es gesehen, man kriegt alles mit, auch ohne die üblichen Fernsehspiel-Verfahren - unterlegte Musik, forcierende Großaufnahmen und ohne die Szene mit Schnitten im Schuss/Gegenschuss aufzuladen. Doillons Lässigkeit beweist seine große Souveränität, er vertraut seinen Figuren, und er vertraut dem Zuschauer.

Die Moral eines Films, ob ein Film rechts oder links ist, aber auch, ob er spannend oder langweilig ist, entscheidet sich nicht so sehr anhand der Geschichte, die er erzählt oder dem Schicksal, das er seinen Helden gibt, als in seiner Haltung und seiner Erzählweise. Oder anhand des Lichtes, das er auf seine Figuren wirft. Im Sommerlicht von »Petits Frères« ist alles sehr hell. Auf der einen Seite braucht die Geschichte dieses Licht, damit die Figuren ohne Zwang herumstreunen können. Große Ferien ohne Verreisen. Andererseits ist eine solche Lichtstimmung nicht sonderlich beliebt: On reconna»t tout le monde (Man erkennt jeden), sagt der französische Kameramann dazu.

Einmal allerdings kann man die Personen nicht so gut auseinander halten: Als der kleine Schwarze Mous mit seiner Cousine per Moped das Brautkleid klaut, dabei gleich die mit schwarzem Samt überzogene Schaufensterpuppe mitnimmt und sie im Gegenlicht anhalten, sieht das für einen Moment so aus, als würden drei Schwarze auf dem Mofa sitzen. Daran kann man gut erkennen, wie westlich-kaukasisch Filmmaterial ist.

»Neger frisst zwei Blenden« - mit diesem Merkspruch erinnern sich deutsche Kameraleute daran, die Blende weiter zu öffnen, wenn sie Dunkelhäutige filmen. Es ist durchaus plausibel, dass diese Überbelichtungsästhetik zumindest zum Teil daraus resultiert, dass der Film sich an der Hautfarbe seiner schwarzen Protagonisten orientiert. Auch das führt zum Schlüsselbegriff des gesamten Films: Respekt.

»Petits Frères«, F 1999. R: Jacques Doillon. Start: 9. März