Atompolitik der Grünen

Badisches Die-In

Ausstieg mit langen Halbwertzeiten: Auf ihrem Parteitag in Karlsruhe wollen die Grünen ihre Haltung zur deutschen Atompolitik festlegen.

Bielefeld steckt vielen noch in den Knochen. Ähnliches wie auf dem Kosovo-Parteitag im Mai vergangenen Jahres möchte man bei den Bündnisgrünen am Wochenende auf der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) zum Thema Atom nicht erleben. So wurde denn auch der ursprüngliche Versammlungsort im nordrhein-westfälischen Münster aufgegeben, weil Konflikte mit den Bürgerinitiativen aus dem nahe gelegenen Ahaus drohten. Jetzt trifft man sich im badischen Karlsruhe und ist trotzdem nervös, wer da kommen mag.

Fast wäre die Versammlung aus lauter Unsicherheit über den Verlauf noch auf einen Termin nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verschoben worden. Denn mit der Atompolitik steht eines der letzten urgrünen Essentials auf der Tagesordnung. Und in der grünen Parteispitze schwankt man zwischen Trübsal und Freude über die Vorstellung, dass bis zur BDK keine vorzeigbaren Ergebnisse bei den Konsensgesprächen mit den AKW-Betreibern vorliegen werden.

Eigentlich, so war geplant, sollten die 750 Delegierten darüber befinden, ob sie entweder einen von Regierung und Stromkonzernen erzielten Konsens, oder, im Falle eines Scheiterns der Gespräche, eine rot-grüne Dissens-Lösung, sprich ein Ausstiegsgesetz, unterstützen. Basis der Entscheidung sollte die Ende letzten Jahres von Vorstand und Bundestagsfraktion akzeptierte Gesamtlaufzeit von 30 Jahren sein. Würde ein klares Konzept zum staatlichen Umgang mit der Atomindustrie zur Abstimmung stehen, so gäbe es in Karlsruhe klare Fronten: Auf der einen Seite stünden die Regierungsgrünen, denen der Verbleib in der Koalition wichtiger ist als alle ehemaligen Forderungen der Partei. Auf der anderen die Anti-Atom-TraditionalistInnen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ausgerechnet die Grünen den Bestandsschutz für Atomkraftwerke organisieren.

Geht es nach den Interessen der Regierungsgrünen, so soll ein Szenario, wie es sich am ersten Februar-Wochenende beim Atom-Sonderparteitag des niedersächsischen Landesverbandes abspielte, in Karlsruhe vermieden werden. Dort protestierte die wendländischen Bäuerliche Notgemeinschaft vor dem Saal, und gleichzeitig zerpflückten drinnen Initiativen-VertreterInnen und kritische WissenschaftlerInnen die grüne Atompolitik. Bundesumweltminister Jürgen Trittins Rede war von Pfiffen begleitet. Schließlich wurde dort der eher auf Regierungslinie liegende Leitantrag des Landesvorstandes klar überstimmt. Die Delegierten beschlossen ein Papier, in dem die schnellere Stilllegung von Atomkraftwerken gefordert werden. Im Falle der Nichterfüllung müsse die Koalitionsfrage auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Sollte es nun bei der Bundesdelegiertenkonferenz zu einer ähnlichen Dynamik kommen, droht die in der Partei in den letzten Monaten mühsam aufgebaute Akzeptanz für immer längere AKW-Laufzeiten, für den Neubau von Atommüll-Lagern und für weitere Castor-Transporte in sich zusammenzufallen. Zahlreiche Anträge, die eine entsprechend klare Sprache sprechen, liegen auf dem Tisch.

Auch aus den Reihen der Anti-Atom-Bewegung soll es vor und in der Karlsruher Schwarzwaldhalle Signale an die Delegierten geben. So mobilisiert beispielsweise ein »Aktionsbündnis Menschenteppich« via Internet für den Samstagmorgen zu einem »Die-In«. Die Eingänge des Saales würden so zwar nicht blockiert werden, die Delegierten müssen aber dennoch über die Körper steigen, wenn sie am Parteitag teilnehmen wollen.

In der Diskussion innerhalb der Initiativen über die Aktionen zur BDK gab es viele Stimmen, die eine Situation wie beim Bielefelder Kriegsparteitag vermeiden wollten. Die Überlegung: Würde es wieder zu Tumulten vor den Toren kommen und Farbbeutel auf Identifikationsfiguren der Partei geworfen werden, dann könnte das die Reihen der Versammelten eher zusammenschließen. Versucht werden soll das Gegenteil: Selbst diejenigen Delegierten, die bereits durch verschiedene Treffen interner Klüngel auf Vorstandslinie gebracht wurden, sollen nochmal ins Grübeln kommen, erhoffen sich die AKW-GegnerInnen.

Um in Karlsruhe eine Niederlage zu vermeiden, sind VertreterInnen der grünen Parteispitze in den letzten Wochen durch Kreis- und Landesverbände getingelt. Man wollte möglichst viele Delegierte davon überzeugen, dass von weitgehenden Zugeständnissen an die Atomindustrie nicht die Rede sein könne und nur die Regierungslinie den schnellstmöglichen Ausstieg bringe. Schließlich soll die BDK zum Signal an Öffentlichkeit, Partei und Bewegung werden: Der Ausstieg kommt, die Grünen haben ihn mit organisiert, der gesellschaftliche Konflikt ist beendet, auch wenn es noch Jahrzehnte dauert, bis die Reaktoren vom Netz gehen. Schon wurde öffentlich darüber spekuliert, dass selbst Castor-Transporte durchsetzbar werden, wenn nur endlich Restlaufzeiten festgeschrieben würden.

Doch nun sieht alles ganz anders aus. Da sich die Atomwirtschaft schlicht über alle Ultimaten der Regierung hinweggesetzt hat, wird es wohl vor der Karlsruher Konferenz zu keinem Ergebnis der Konsensgespräche kommen. Damit der Parteitag jetzt nicht noch unberechenbarer wird, damit die Ungeduld sich nicht ungeordnet Bahn bricht, hat Trittin in der letzten Woche einen auf den ersten Blick erstaunlichen Kurswechsel vollzogen.

Er weigerte sich, einen von der Parteispitze formulierten Offenen Brief an die Delegierten zu unterschreiben, in dem für seine Atompolitik geworben und ein geduldiger Umgang mit den Verhandlungen angemahnt wird. Stattdessen begab er sich plötzlich auf scheinbaren Konfrontationskurs. Der grüne Bundesminister, mitverantwortlich für das Scheitern bisheriger grüner Ausstiegsbemühungen und für das Verstreichen mehrerer Ultimaten an die AKW-Betreiber, ging quasi zu sich selbst in Opposition: »Wir sind bei den Verhandlungen in der zweiten Halbzeit der Verlängerung. Ich würde mir von Karlsruhe das Signal wünschen, dass es eine dritte Halbzeit nicht gibt. Beim Ausstieg darf nicht länger auf Zeit gespielt werden.«

Damit, so sein Kalkül, soll der Parteitag zwischen der geduldigen Politik der UnterzeichnerInnen des Offenen Briefes und der Ungeduld des scheinbar radikalen Umweltministers wählen. So würde unter den Tisch fallen, dass sich Trittin und die übrige Parteispitze bei allen Rahmendaten einig sind: Eine Frist von 30 Betriebsjahren, eine betreiberfreundliche Umrechnung der Laufzeiten in Strommengen, Übergangsfristen für alte Atommeiler bis nach der nächsten Bundestagswahl, illegale Zwischenlagerung von Castor-Behältern auf dem Reaktorgelände.

Der Unmut der Basis über das vollständige atompolitische Versagen der Regierung könnte sich nun in der Trittinschen Forderung nach einem baldigen Ende der Konsensgespräche Bahn brechen. Die eigentlichen politischen Rahmendaten würden dann nebenbei hingenommen. Auch Trittins Äußerungen gegen die vom Vorstand geplante innergrüne Strukturreform passt in diese Überlegungen. Der Umweltminister, dem die Kritik an der Aufhebung von Amt und Mandat bislang nicht besonders am Herzen lag, dürfte sich auf die Seite der Reform-GegnerInnen aus dem eher linken Parteiflügel geschlagen haben, damit diese ihn beim Thema Atom nicht hängen lassen.

Inzwischen, so informiert die Berliner Zeitung, spekuliert Kanzler Gerhard Schröder darauf, dass sein Regierungspartner in zeitlichem Abstand zum Karlsruher Parteitag doch noch zu Laufzeiten von über 30 Jahren zu bewegen ist. Gibt es eine Schmerzgrenze bei den Grünen? Bislang ist die Frage offen. Aber vielleicht wird sie doch schon in Karlsruhe beantwortet.