Der Wedding

Deutscher Wedding ...

Gefährliche Orte XCV: Die einstige Hochburg des Proletariats. Es wimmelt dort nur so vor Billigläden und »Überfremdungsangst«.

Wie soll man nur einen einstigen Arbeiterbezirk ohne Arbeiter nennen? Nur Bezirk wäre doch irgendwie langweilig. Und Arbeitslosenbezirk hört sich nach Sozialkitsch an. Am besten also man nennt einen einstigen Arbeiterbezirk ohne Arbeiter nüchtern beim Namen: Wedding.

Früher hieß er noch »Roter Wedding«. Aber die Zeit der Roten ist schon viel länger vorbei als die der Arbeiter. Einst verdienten sich viele beim größten Arbeitgeber des Bezirks, dem Apotheker Ernst Schering bzw. dessen Nachfolgefirma Schering AG, das Geld zum Überleben. Aber die Pharma-Industrie ist längst keine klassische Industrie mehr, sondern muss sich an Globalisierung, Biotechnologie und andere Neuheiten anpassen. Und wo die Industrie modifiziert wird, braucht es eben auch keine Arbeiter mehr.

Deswegen vertreiben sich die Bewohner des Arbeiterbezirks ohne Arbeiter anderweitig die Zeit. Und damit kann man im Grunde nicht früh genug beginnen. Jonas beispielsweise ist noch verdammt jung und doch verdammt geschäftstüchtig: »Wollense kaufen? Nur eine Mark.« Für ein Spielzeugauto ist das eigentlich kein hoher Preis. Wenn nur der Verkäufer nicht so jung wäre. Jonas ist gerade mal acht Jahre alt.

Aber er hat Erfahrung, vertickt nicht zum ersten Mal seine Spielsachen. »Das machen andere hier doch genauso«, sagt er. »Hier« - das ist der Weddinger »Sprengelkiez«. Am liebsten zieht Jonas über den Sparrplatz am östlichen Ende der Sprengelstraße. Z.B. auf den dortigen Spielplatz. Es ist zwar kalt, aber hier hopsen die Kinder auch im Winter auf Seilbahn und Schaukel herum. Wie Jonas sind sie Deutsche.

Merkwürdig. Denn Deutsche, so behauptet es die Legende vom Arbeiterbezirk ohne Arbeiter, gibt es hier kaum noch. »Die Türken werden hier immer mehr«, weiß auch Manne. Manne wohnt sozusagen auf dem Sparrplatz. Wenn es ihm nicht zu kalt wird. Normalerweise frühstückt er ein Bier. »Manchmal« - wenn er etwas mehr Geld hat - »auch noch 'n Korn dazu.« Manne scheint eher solche kleinen Mahlzeiten zu bevorzugen. Dafür genehmigt er sich davon offensichtlich mehrere am Tag. Manchmal betritt er dazu die einzige deutsche Kneipe am Sparrplatz: »Zum Seemann«. »Sonst gibt's hier ja nur noch Türken«, sagt Manne vorsichtshalber noch einmal. Niemand soll die abfällige Charakterisierung »seines« Kiezes überhören, den er »um nichts in der Welt« verlassen will.

Aber wo sind die vermeintlich so vielen Türken nur? Nahe dem beeindruckenden Stellplatz von immerhin 27 Müllcontainern tummeln sich auf den Bänken des Sparrplatzes vor allem deutsche Existenzen. Ob sie ein B.Z.-Basecap auf dem Kopf, zwei Aldi-Tüten in der Hand oder Stone-washed-Jeans tragen - alle scheinen sich strikt nach Mannes Speiseplan zu ernähren, um dann gemeinsam die »Überfremdung« zu bejammern.

Auch auf dem Spielplatz herrschen die deutschen Kids, einzig Fußball- und Basketballfeld sind ausländisch dominiert. Und natürlich gibt es an der Ecke zur Sprengelstraße einen türkischen Gemüsehändler. Nicht den einzigen in der Straße. Wer da nicht hin will - z.B. weil »die nich' mal richtiges Bier haben« (Manne) oder »der Süßkram bei denen eh nicht schmeckt« (Jonas) -, kann aber genauso gut bei Penny oder Superspar einkaufen. Bei Superspar wird auch im Schaufenster mit bester deutscher Lebensmittel-Qualität geworben. Im Angebot sind »Deutsche Fleischhähnchen« (»Handelsklasse A«) und »Deutsche Speisekartoffeln« (»Sorte siehe Aufdruck«). Da kann kein Birlik Marketler mithalten.

Geht man nur nach der Quantität, dann müssten eigentlich Kampfhunde das größte Problem im einstigen Arbeiterbezirk ohne Arbeiter sein. Wäre der Titel »Kampfkötergebiet« nicht längst an Neukölln vergeben, Wedding hätte ihn sich redlich verdient. Obschon sich das in Neukölln obligatorische Hundehalter-Erkennungszeichen - die Jogginghose - die Weddinger Halter beißwütiger Haustierchen offenbar bisher nicht zu überzeugen vermochte.

Überhaupt - nach einem Getto, das aufgeregte Journalisten von Focus-TV schon ausgemacht haben wollen oder einem »Verfall« (Tagesspiegel) sieht es in der Gegend eigentlich gar nicht aus. Da gibt es höchstens das ehemalige Firmengelände von Schweißtechnik Schneider. Der Name ist noch gut auf einem großen verrosteten Schild zu lesen, weniger gut ist der ebenfalls verrostete Zaun erhalten, der das Grundstück offenbar vor Eindringlingen sichern soll. Als ob es hier etwas zu holen gäbe! Die brachliegende Fläche vor dem Fabrikgebäude scheint allein als Lagerstätte für von wem auch immer geleerte Bierdosen zu dienen. Daneben verfallen auch noch einige zerbeulte alte Fässer vor sich hin, von denen man lieber nicht wissen möchte, was drin ist bzw. was mal drin war, bevor es durch die verrotteten Metallwände in den Boden und ins Trinkwasser eingesickert ist.

Sonst aber liegt kaum Müll oder Sperrmüll auf den Gehwegen, die Bordsteine sind nicht von Autowracks gesäumt und die Hauswände zieren eher weniger Graffiti, als man es aus anderen Bezirken der Hauptstadt gewohnt ist. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass die Leute hier weniger verdienen. Mehr als jeder sechste Bewohner im einstigen Arbeiterbezirk lebt von Sozialhilfe. Und fast jeder vierte ist arbeitslos gemeldet.

Das senkt die Kaufkraft natürlich erheblich. Einzig in der Nähe von Technischer Fachhochschule und Universitätsklinikum Rudolf Virchow steigt das Preisniveau. Studentengerecht gibt es hier auch jede Menge Copy-Shops und sogar ein halbwegs nettes Café. Davon abgesehen hat beispielsweise die Karstadt-Filiale am Leopoldplatz ihre besten Zeiten wohl längst hinter sich. Billigläden wie Woolworth und Strauss Innovation boomen dagegen. Hauptsache, das Zeug ist billig und sieht prollig aus, ist die Devise im einstigen Arbeiterbezirk ohne Arbeiter.

Manche stört das. Jens-Uwe Krüger zum Beispiel. Er ist Geschäftsführender Pfarrer der Nazareth-Kirchengemeinde am Leopoldplatz. Die Gemeinde hatte mit dem Bezirk vereinbart, dass vor dem Kirchenportal ein Wochenmarkt stattfinden darf. Aber nur noch bis Ende dieses Monats. Dann nämlich läuft der Vertrag zwischen Amt und Gemeinde aus - ohne Aussicht auf Verlängerung. Zu viele »Billiganbieter« haben die Kirchenvertreter auf dem Wochenmarkt entdeckt. Das passt zwar in die Umgebung, nicht aber dem evangelischen Gemeindekirchenrat.

Ärgerlich für den Bezirk. Die Verantwortlichen möchten Wedding gerne attraktiver präsentieren und haben dazu auch schon ein Wundermittelchen entdeckt: das Quartiersmanagement. Und das hat schon eine Menge erreicht: Die Müllabfuhr soll öfter kommen und Sperrmüll sogar dann mitnehmen, wenn kein Sperrmüllsammeltag ist, die Schulen in den »Problemkiezen« Sprengelstraße und Soldiner Straße sollen mehr Personal erhalten.

In der weiter nördlich gelegenen Gegend um die Soldiner Straße herum soll das angeblich schon erste Erfolge gebracht haben. »Der Lärm hat abgenommen, auf den Gehwegen steht weniger Sperrmüll, man wird auf der Straße nicht mehr beschimpft«, so das Resümee einer Anwohnerin. Und auch sie weiß, wer für das zuvor herrschende Chaos verantwortlich war. Die deutschen Arbeitslosen bestimmt nicht: Es habe sich erst gebessert, nachdem man ausländische Flüchtlinge aus einem nahe gelegenen Heim in andere Unterkünfte verlegt habe.