Ökonomische Trendwende in Vietnam

Die Krise boomt

Zeitversetzt wird auch Vietnam von der Krise in Asien heimgesucht. Der Boom der neunziger Jahre ist vorbei.

Der Hanoier Bauer Khan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als vor drei Jahren die Briten zu ihm kamen: Ob er nicht einen Teil seines Reisfeldes unbestellt lassen und dafür Geld bekommen wollte? Der Vietnamese brauchte der britischen Werbefirma lediglich zu gestatten, eine Betontafel auf sein Feld zu stellen.

Was stört es Khan, dass er nunmehr nur zwei Drittel seines Reisfeldes nutzen kann? Für die Werbetafel bekommt er fünfmal so viel Geld wie für den Reis, den Khan seit 1997 immer schlechter verkaufen kann. Vietnam, einst ein Importeur des Grundnahrungsmittels, hatte sich in den neunziger Jahren zum zweitgrößten Reisexporteur der Welt entwickelt. Die Krise in Asien brachte ab 1987 ein Überangebot und einen Preissturz beim Reis. Erst seit dem Hochwasser in Zentralvietnam im November vergangenen Jahres kann Khan seinen Reis wieder besser verkaufen. Dennoch ist die Werbetafel krisensicherer als Reis.

Khans Reisfeld liegt an der Fernverkehrsstraße, die den Hanoier Flughafen mit dem Stadtgebiet verbindet. Wer fliegt - und das sind Leute, die Geld haben -, muss an Khans Feld vorbei und sieht die Werbung für Toshiba oder Siemens. Khan gehört zu jenen Vietnamesen, die vom wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes der neunziger Jahre profitieren konnten. Längst ist seine Bambushütte einem Steinhaus gewichen, dem Khan vor zwei Jahren noch eine zweite Etage aufsetzen konnte.

In den neunziger Jahren verzeichnete Vietnam einen regelrechten Wirtschaftsboom mit jährlichen Wachstumsraten zwischen sieben und elf Prozent. Nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Wirtschaftsblocks in Osteuropa, mit dem die vietnamesische Wirtschaft verwoben war, musste sich Vietnam nach neuen Wirtschaftspartnern und Investoren umsehen. Die kamen aus Japan und der aufstrebenden südostasiatischen Region: aus Singapur, Taiwan, Malaysia. Vietnam nahm an ihrem Wirtschaftswachstum teil und ist seit 1995 Vollmitglied des Verbandes süd-ostasiatischer Staaten (Asean).

Mit der Krise ist den Investoren aus Asien das Geld ausgegangen. Viele Investitionsruinen stehen herum, wie in den anderen Ländern stieg die Arbeitslosigkeit auch in Vietnam. Das Wirtschaftswachstum erreichte im vergangenen Jahr mit vier Prozent den geringsten Wert seit 1986. In diesem Jahr wird es voraussichtlich noch geringer ausfallen. Vietnamesische Firmen können infolge der Krise ihre Produkte schwer in Südostasien absetzen, wohin fast 60 Prozent des Exports Vietnams bis 1997 gingen.

Die Krise, die Vietnam zeitversetzt erreicht hat und dort nun in vollem Gang ist, wird durch hausgemachte Probleme verstärkt: Die Währung wurde zu spät abgewertet, was zu einer Verteuerung vietnamesischer Produkte im Vergleich zu thailändischen oder indonesischen führte, und viele Unternehmen, die mit dem Boom schnell hochgekommen waren, brachen zusammen, oft, weil deren Chefs die Qualifikation fehlte. Experten hatten zwar im Frühherbst eine Trendwende für das laufende Jahr vorausgesagt. Doch die wird wohl noch auf sich warten lassen: Ein Hochwasser zerstörte im November und Dezember in Zentralvietnam fast die gesamte Infrastruktur, machte eine Million Menschen obdachlos und richtete einen Sachschaden von 250 Millionen Dollar allein an zerstörtem öffentlichem Eigentum an.

Neben staatlichem Eigentum entstanden in dem noch immer realsozialistischen Land in den neunziger Jahren verschiedene Formen von Privateigentum: Niederlassungen ausländischer Großfirmen, kleine Privatfirmen, Genossenschaften, an denen die Mitarbeiter Anteile erwarben, und Aktiengesellschaften. Etwa 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute im Staatssektor, Tendenz stark sinkend, weil über 5 000 staatliche Unternehmen derzeit privatisiert werden.

Die Wirtschaft boomte jedoch nicht im ganzen Land. Eine Bambushütte ohne Fenster und Wasseranschluss, die in Hanoi, Saigon, der traditionell reichen Region um Da Nang in Südvietnam oder im Kohlerevier im Nordosten des Landes gerade einmal als Geräteschuppen dienen würde, ist auf dem flachen Lande ein normales Wohnhaus. Zwei Zimmerchen teilt sich eine Drei-Generationen-Familie, die aus bis zu zehn Familienmitgliedern bestehen kann. Einen Nebenverdienst mit einer Werbetafel kann hier keiner machen: Wo die Menschen kein Geld haben, will niemand werben.

Enorme Produktionsgewinne bringt seit 1993 die Privatisierung der Landwirtschaft. Unter den zehn wichtigsten Exportgütern stehen heute fünf landwirtschaftliche Produkte, darunter der Reis mit 3,8 Millionen Tonnen pro Jahr auf Platz zwei. Die Umstrukturierung der Landwirtschaft ging jedoch auf Kosten der Bauern und ihrer Familien, Maschinen stehen den nach der Privatisierung 1993 entstandenen Kleinstbetrieben nicht zur Verfügung. Viele Bauern in entlegenen Gebieten melden deshalb ihre Kinder nach der zweiten Klasse von der Schule ab, weil die als Arbeitskräfte auf dem Feld gebraucht werden. Dass man auf diese Weise auch das Schulgeld spart, das Gemeinden ab der dritten Klasse erheben dürfen, ist ein gewünschter Nebeneffekt. Und die Gemeinden sparen das Geld für den Bau neuer Schulen, die für die geburtenstarken Jahrgänge eigentlich gebraucht würden. Seither gibt es in Vietnam wieder Analphabeten.

Für den Hanoier Bauern Khan kommt die Einsparung beim Schulgeld nicht in Frage, und das nicht nur, weil er durch die Werbetafel genug Geld verdient, um seine beiden Töchter zur Schule zu schicken. In den boomenden Städten und ihren Vororten gehen über 90 Prozent der Kinder bis zur neunten Klasse in die Schule.

Khan hat während des Wirtschaftsbooms vor allem gelernt, dass man nie weiß, womit man in den nächsten Jahren sein Geld verdient. Da ist es von Vorteil, etwas gelernt zu haben. Als die Briten in sein Haus gekommen waren, hat es einen guten Eindruck gemacht, dass die ältere Tochter ein paar Sätze Englisch sprechen konnte. Jetzt, in der Krise, ist der Wert von Bildung sogar noch angestiegen. Arbeitsplätze sind rar, und auf die Schnelle kann man eigene Existenzen nicht gründen. Da können die Kinder getrost noch ein paar Jahre etwas lernen.