Repression in Mexiko

Provokation der Unordnung

In einem Briefwechsel reflektieren der inhaftierte Student Agust'n Avila R. und der spanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán die Proteste der Jugendlichen an der Unam in MexikoóStadt

An Manuel Vázquez Montalbán ó von einem inhaftierten Studenten

Ich habe heute begonnen, Dein Buch zu lesen. Zwischen Geschrei, Mahlzeiten, Anwesenheitskontrollen und Aufforderungen, vor Gericht zu treten, verschlinge ich jede Seite von »Marcos ó Der Herr der Spiegel«. Bis jetzt ist es das erste Exemplar, welches es durch die Gitter dieses Gefängnisses geschafft hat ó und das nicht ohne Schwierigkeiten. Es gibt bereits eine Liste von 20 Genossen, die darauf warten, dass ich es zu Ende lese.

Also gut, ich schreibe Dir, ohne große Ansprüche zu stellen, einfach in der Hoffnung, dass Du diese Zeilen lesen kannst, bevor Du unser Land verlässt. Nimm sie als eine einfache Interpretation, was diese Bewegung darstellte, eine Einschätzung mehr zu dem, was hier diskutiert wird. Und ich hoffe, dass Du Dich, Deinen Möglichkeiten entsprechend, der Forderung nach unserer Freiheit anschließt.

Dein Satz: »Die neue Rechte gleicht haargenau der traditionellen Rechten, wenn sie inbrünstig vertritt, dass die Unordnung schlimmer ist als die Ungerechtigkeit« hat meine Aufmerksamkeit erregt. Denn unser Aufenthalt in diesem Knast und die Repression, welche auf unsere Bewegung niedergeht, ist das Ergebnis des Drucks der Rechten in unserem Land. Keine andere soziale Bewegung ó abgesehen von den Zapatistas in gewisser Hinsicht ó wurde auf eine so wirkungsvolle Weise von den staatlichen Apparaten, der Kirche, den Massenmedien, den Großunternehmen, von Intellektuellen und Vertretern der Parteien angegriffen und zersetzt. Warum dieses Vorgehen gegen uns? Warum diese Rache an den Studierenden?

Teilweise finde ich die Antwort in dem, was auch Du bestätigst: Die Studierendenbewegung, die sich im CGH zusammenfand, positionierte sich von Anfang an als eine soziale Bewegung der Linken zur Verteidigung der öffentlichen und kostenfreien Bildung in dieser Universität. Sie konfrontierte die neoliberale Politik, welche die vom »Wohlfahrtsstaat« erreichten Fortschritte zerstört. In diesem Sinn ist der CGH eine Bewegung gegen eine Ungerechtigkeit, die für Tausende Jugendliche mit arbeitenden Eltern bedeuten würde, dass sie sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht an der Universität einschreiben könnten.

Aber außer der Tatsache, dass sich die Studierendenbewegung auf die Seite der Linken gestellt hat, ist sie das erste bedeutende soziale Ereignis nach dem zapatistischen Aufstand von 1994 und seinen Wellen des Widerstandes. Sie ist die erste artikulierte Rebellion von Jugendlichen im Zentrum des Landes gegen die soziale, kulturelle und entfremdende Dynamik des Neoliberalismus.

Die Generation der Jugendlichen, die von einigen als »X« katalogisiert wurde, bricht aus sich selbst aus und bringt das »gute Bewusstsein«, die »guten Sitten« durcheinander und »provoziert die Unordnung«. Sie bricht aus, schlägt aber gleichzeitig neue Formen vor, wie Politik gemacht werden kann, und ó gerade deshalb ó bricht sie mit der institutionellen Ordnung.

Auf diese Weise und neun Monate lang hat der CGH mit einem Widerstand, den ich als beispielhaft bezeichnen würde, sein Image aufgebaut ó so wie Du es in einem Teil Deines Buches beschreibst. Und wie Du sagst, versuchte der CGH, seinem Image treu zu bleiben. Von seinen eigenen Mitgliedern und Außenstehenden als »ultra« und »radikal« eingestuft, hat die Studierendenbewegung ein janusköpfiges Image. Sie wird von der Regierung als »plündernd« angegriffen, während diese Regierung versucht, den Jugendlichen ihr Recht auf Bildung zu rauben. Sie wird als »gewalttätig« angeklagt, während es keine größere Gewaltausübung gibt als die Enteignung des Reichtums und der Arbeitskraft unseres Landes durch die großen Kapitalbesitzer. Sie wurde als »ultra« angeklagt, weil sie sich einer Verhandlungslösung widersetzte, als die wirklichen »Ultras« Gewalt und Repression gebrauchten sowie 262 politischen Gefangene inhaftierten, um die Studierendenbewegung in Trümmer zu schlagen.

Aber außerdem ließ die Rechte ihre verbitterte Wut an dieser Bewegung aus, weil hintergründig neue Praktiken der Politik entstanden. Der CGH errichtete während seiner Entwicklung und seines Widerstandes zwei Fundamente, auf denen sich seine Bedeutung auch weiterhin gründen wird: eines ist die politische Ethik, das andere das gehorchende Befehlen und die Horizontalität.

Ja, die ethische Vorstellung des CGH ist das Bemühen um eine Verhandlungslösung für den Konflikt, welche für die universitäre Community und die Gesellschaft insgesamt offen ist. Daher die Forderung nach einem öffentlichen Dialog. Die Bewegung lehnt deshalb Abkommen zwischen Führungsgruppen und Verhandlungen hinter ihrem Rücken ab. Andererseits muss man akzeptieren, dass die Bewegung nicht die Reife hatte, sich selbst als einen Raum der Diskussion und Reflexion zu konstituieren. Aber sie hatte eine ethisch begründete Vorstellung.

Zweitens wird viel darüber diskutiert, ob der organisatorische Vorschlag des CGH originär war oder nicht. Das erste, was ich Dir gegenüber betonen möchte, ist die Tatsache, dass die Versammlungen der universitären Communities über den Weg der Studierendenbewegung entschieden. Sie organisierten das »gehorchende Befehlen« dadurch, dass sie Delegierte für den Rat bestimmten, die rotierten und auf diese Weise eine wirkliche demokratische Partizipation eines guten Teiles der Community herstellten. Das ist tatsächlich etwas Neues.

Für mich sind wir mit der ersten sozialen Bewegung in diesem Land konfrontiert, welche die politischen Vorschläge des Zapatismus aufgreift. Mit Fehlern und Verunstaltungen, aber mit der Hoffnung, etwas Neues aufzubauen, und schon allein deshalb lohnt es sich.

Okay, Manuel, entschuldige bitte die Unverschämtheit, Dir zu schreiben und Dir vielleicht die Zeit zu rauben. Zum Schluss möchte ich Dir sagen, dass Du uns besuchen solltest. Wenn nicht physisch, dann würde es dem ganzen Haufen hier ganz gut gefallen, eine Solidaritätserklärung zu erhalten und ó natürlich ó auch ein paar Deiner Bücher. Na, wie steht's?

Aus der Haftanstalt Nord, MexikoóStadt, Zone 4, Zelle 6, 19. Februar 2000, 1.15 Uhr nachts.
agust'n avila r.

An Agust'n Avila R., politischer Gefangener ó von Manuel Vázquez Montalbán

Lieber Freund: Als ehemaliger politischer Gefangener von Franco drücke ich Dir meine Solidarität aus.

Seitdem ist viel Zeit vergangen, aber die Logik des Systems ist die gleiche. Zu meiner Zeit behaupteten die Theoretiker des Regimes das Ende der Ideologien, und in Deiner rufen sie das Ende der Geschichte aus, mit der Hoffnung, sie in ein unabänderbares statisches Bild zu verwandeln, das ihre Vorherrschaft für immer festhält.

Das von Dir gelesene Buch versucht dazu beizutragen, das neue kritische historische Subjekt zu umreißen, welches das historische Subjekt ersetzt, das als Konsequenz aus der ersten industriellen Revolution entstand. Dieses neue historische Subjekt ist plural, es wird von den Globalisierten gegenüber den Globalisierern gebildet, von den wirklichen Ind'genas und den metaphorischen Ind'genas. Das heißt von den sozialen Verlierern, welche in den kommenden Jahrzehnten vor der Gefahr einer ungekannten sozialen Katastrophe stehen werden. Der Anstieg der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten steht im Kontrast zu einem wissenschaftlichótechnischen Fortschritt, der die Bedingungen für eine wirklich globalisierte Entwicklung böte.

Die große Enttäuschung, verursacht durch die Übermacht des Neoliberalismus und die Schwäche der schiffbrüchigen konventionellen Linken, wird von neuen Formen des Ungehorsams überwunden. Diese deuten auf eine Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus in der Phase der Globalisierung und der Spannung zwischen Globalisierern und Globalisierten. Die Generation X, Y oder Z, das ist egal, ist aus der Vorhölle oder aus dem Niemals, wohin sie das System stecken wollte, aufgebrochen und ist sich ihrer Lage bewusst geworden.

In diese Richtung ist die Studierendenbewegung an der Unam gegangen. Es ist nicht der Moment, über die maximalistischen oder machbarkeitsorientierten Positionen in Eurer Bewegung zu richten, sondern Solidarität zu zeigen, gegen die Repression und den Versuch, das als Terrorismus zu verkleiden, was eine Aktion für eine soziale Forderung war. Die Herrschenden sind von ihrem Einheitsdiskurs so eingenommen, dass alles, was sich ihm widersetzt, zum intellektuellen oder politischen Terrorismus verwandelt wird.

Ich werde versuchen, Euch die Bücher zukommen zu lassen. Hoffentlich seid Ihr wieder auf der Straße, wenn sie kommen.
manuel vázquez montalbán