Die Umkleidekabine

Schulterblatt im Abendlicht

Früher waren sie stickig und eng, heute sind Umkleiden hell und geräumig. Und wer will, erlebt den Sonnenuntergang in der H&M-Kabine.

Am Samstagnachmittag bleibt im Londoner Covent Garden kein Zweifel mehr, worum es geht: Die neue Saison hat begonnen. Frühling. Garderobenwechsel, jetzt. Auf der Neal Street ist dichtes Gedränge. Einkaufswillige strömen die Fußgängerzone entlang, vorbei an Straßenkünstlern und Touristen. Der Rhythmus der Menge ist forsch, der Bestimmungsort das Geschäft. Wer nicht mindestens drei bunte Tüten trägt, ist noch nicht lange da.

New Arrivals heißt es überall. Große Schaufenster geben den Blick auf die neuen Kollektionen frei, die Ladentüren sind weit geöffnet. Der Frühling hat viele Farben. Zunächst mag diese Vielfalt daherkommen wie stoffgewordenes anything goes. Die Stilelemente der letzten Dekaden mischen sich, und selbst die Achtziger, das letzte große Eeeeeh, sind wieder straßenfähig. Spitze Pumps in Pink und rosa Nietengürtel.

Und: Die Kabine hat sich gewandelt. Das Anprobieren ist mehr als ein schnöder Blick auf den richtigen Sitz. Früher fiel grelles Neonlicht auf den entblößten Körper. »Und, sitzt's?« fragten die Verkäuferinnen, und rissen unerwartet den Vorhang zur Seite. Heute macht die Kabine den Kauf zum Ereignis. Eingehüllt in dezentes Licht können die Benutzerinnen herausfinden, wie sich die eigenen Körperformen zu den Linien der Kollektion verhalten. Verstellbare Spiegel ermöglichen ungewöhnliche Perspektiven, die sonst nur dem Blick der anderen zugänglich sind. Die Biegung des Nackens. Das Ohr. Die so genannten Problemzonen.

Die Kabine wird zum Probenort, hier wird der Straßenauftritt antizipiert. Hennes & Mauritz, allen anderen im Trendsetten von Probierkultur voraus (wir erinnern uns: das Nummernschild mit der Null für die Freundin, die zur Beratung mit in die Kabine kommt), bringt das andere Ich technisch auf den Weg. Individuelle Lichtkontrolle in den Kabinen bietet die Wahl zwischen Tageslicht, Abendlicht und Kunstlicht. Wer wollte da nicht verweilen und es um das eigene Schulterblatt langsam Abend werden lassen ó wieder und wieder?

Das Spiegelbild fasziniert, und die Warteschlangen sind lang. In London gibt es eine Alternative: die gemeinsame Umkleidekabine. Gemeinsam bedeutet aber nicht unisex. Dass Frauen sich zusammen umziehen, ist erstaunlich genug. Die Briten seien prüde, will das Vorurteil noch immer, und dem leistet einiges Vorschub: obligatorische Schwimmkleidung in der Sauna, auch in der kalten Dusche, auch am Frauentag.

Die Gemeinschaftskabinen kamen in den Sechzigern auf. Kleine Boutiquen eröffneten, wegen Platzó und Geldmangel wurde nur ein Vorhang gespannt. Heute haben vor allem billige High Street Shops gemeinsame Kabinen. Zugleich finden sie sich in Läden wie French Connection, in denen bis zur Sicherheitsplakette alles ins Designkonzept integriert ist. Noch immer scheint den Gemeinschaftskabinen etwas Freies, Ungezwungenes zu eignen. Die Realität des Umkleidens sieht allerdings anders aus. Die Großkabine bei French Connection kommt mit dem Charme einer Schulsportumkleide daher. Ein kleiner verwinkelter Raum im basement, minimalistisches Konzept, stilvolles Beige: Steinfußboden, Holzbänke zum Ablegen der Kleidung, Haltegriffe, Hänger und große Spiegel, je einer für zwei Kundinnen.

Das Sehen auf engem, dichtem Raum folgt einem Gesetz: Ich sehe dich nicht an, du siehst mich nicht an, und wenn wir uns ansehen, tun wir besser so, als täten wir's nicht. Aus physischer Nähe wird Intimität, mit dem Durchschnittsfremden ist das eher unangenehm. Das Arrangement der Spiegel in der Gemeinschaftskabine unterstützt das indirekte Sehen. Jeder Blick hinein gibt zugleich die Sicht frei auf zwei Drittel des Raums. Wenn ich mich sehen will, sehe ich zugleich all die anderen. Und alle anderen sehen mich. Das hat Auswirkungen auf die Lockerheit im Umgang mit der eigenen Leiblichkeit. Das Hineingleiten in Kleidung verliert an Gelassenheit. Der Raum ist klein und die anderen Körper sind nah. Eine Lady bleibt mit dem Hosenbein hängen, verliert das Gleichgewicht. Sie fasst an den Haltegriff. Das Überprüfen des Sitzes dauert nicht lang. Einige gehen sofort.

Der nackte Körper ist als Bild allgegenwärtig. Gleichmütig schauen wir ihn an. Bisweilen sitzt er auf Autos und Waschmaschinen, und irgendwie ist klar, dass hier das Produkt an das Begehren gebunden wird und damit das Begehren an das Produkt. Kommt es zum eigenen Körper, hört die Entspannung auf. Der bleibt verhüllt, und doch ist er sexualisierter als je zuvor.

French Connection United Kingdom kürzt sich fcuk ab, und jeder ihrer Slogans macht Gebrauch von dessen Zweideutigkeit. Too busy to fcuk, das ist die Kundin während des Ausverkaufes. Eine andere Werbung zeigt eine lockend liegende Frau: Think my clothes off. fcuk. Und die neue Kollektion? Die heißt new desires. Die Frau der neuen Saison ist voluptuös. Vielmehr, sie ist virtuell voluptuös. Wenn sie nur die Zeit hätte. Und virtuelle Voluptuosität ist es, die die Käuferin mit ihrer Repräsentation teilen mag. Nur liegt ihre Hemmung woanders. Was die Kundin hemmt, ist das Unbehagen, mit dem sie den eigenen Körper bewohnt.

Das gemeinsame Umziehen also ist zunehmend unwillkommen unter den Kundinnen. Zurück zu den Kabinen. Doch neben dem widrigen Exponieren des Körpers, ist da noch ein Weiteres. Was in der gemeinsamen Umkleidezone freigelegt wird, ist zugleich die Funktionsweise der Mode. Und das mag intimer sein als der Blick auf partielle Nacktheit. Spielerische Aspekte der Identität, heißt es bisweilen in der ModeóTheorie. In der Wirklichkeit der Umkleide nimmt sich das weniger spielerisch aus.

Das verwundert. Handelt es sich bei dem Verhältnis von Käuferin und Ware nicht um ein doppelt und absichtsvoll uneingelöstes Versprechen? So wenig wie die Ware den Kundinnenkörper mit Lüsten überschwemmt, ist dieser gewillt, das einzulösen, was seine aufgeladene Oberfläche verspricht. Was auch immer das sein mag.

Das Verführen bleibt ein Locken. Die Schaufensterpuppe in French Connection, weiß, gesichtslos, lädt ihre Betrachter zum Betasten ein. Place your hands. Wer aber wollte dem folgen? Was die Aufforderung hinterlassen mag, ist eine Phantasie. Und diese ist zentral. So ziehen modische Körper die Straßen entlang und hinterlassen Begehrensbilder in den Vorübergehenden. Doch es geht um Farben und Formen. Immer wieder.