20. Todestag von Jean-Paul Sartre

Der doppelte Sartre

Zu seinem 20. Todestag wird Jean-Paul Sartre wiederentdeckt - als Philosoph der Freiheit.

Das ist die letzte Demo von '68«, zitiert Simone de Beauvoir eine Bemerkung von Claude Lanzmann anlässlich des Begräbnisses von Jean-Paul Sartre am 19. April 1980, als Zehntausende sich auf dem Friedhof Montparnasse versammelten. Man begrub eine Epoche, die schon längst zu Ende gegangen war und die von Sartre verkörpert wurde, über Frankreich und Westeuropa hinaus. Nach seinem Tod wurde er zum negativen Symbol für eine veraltete Neue Linke, die sich von der Gesellschaftskritik nicht trennen wollte. Man rechnete ab mit der Ära der subjektiven politischen Verantwortung.

Und nicht umsonst wird er zu seinem 20. Todestag als Menschenrechtsaktivist wieder entdeckt. Der einstige Sartre-Gegner Bernard-Henri Lévy, entschiedener Befürworter des Nato-Krieges Jugoslawien, verkündet in seinem gerade erschienenen Buch »Le Siècle de Sartre«, es habe zwei Sartres gegeben, den guten »Philosophen der Freiheit« und den bösen »Weggefährten von Kommunismus und Stalinismus«. Der gute Sartre sei der Existenzialist und »Antihumanist«, der böse Sartre dagegen habe seine Philosophie dem Marxismus untergeordnet und sei blind für die »totalitäre Gefahr« gewesen. Dabei ist es genau umgekehrt.

In Deutschland liebte man Sartre, weil er das Gegenteil der beiden schlecht gelaunten Alten vom Frankfurter Institut war: forsch und kämpferisch. Das »Engagement« war Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verdächtig. Schon damals bedeutete es für sie, was es heute ohne jeden Zweifel ist: eine Metapher fürs Mitmachen, für die »konstruktive Kritik«. Für Adorno drückte sich die Unfähigkeit der Deutschen zur Kritik im »kollektiven Zwang zu einer Positivität« aus, »welche unmittelbare Umsetzung in Praxis erlaubt«. Dieser Zwang, bemerkte Adorno 1969, habe »gerade die erfasst, die sich in schroffstem Gegensatz zur Gesellschaft meinen. Nicht zuletzt dadurch ordnet ihr Aktionismus dem herrschenden gesellschaftlichen Trend so sehr sich ein.«

Das war nicht Sartres Problem; er lebte in Frankreich, wo eine »öffentliche Meinung« ebenso wie eine offensive Bourgeoisie existierte. Doch waren es eben jene staatsbürgerlichen Appelle, die Sartre in Deutschland attraktiv machten, indem er fortwährend Sätze prägte wie »Wir alle sind Genet« oder »Wir sind alle Mörder«. Was in Frankreich die traditionelle Form der Gesellschaftskritik darstellte, die Argumentation vom Standpunkt des staatsbürgerlichen »Wir«, ermöglichte in Deutschland die Formulierung eines Unbehagens am Umgang des Adenauer-Deutschlands mit der Nazi-Vergangenheit, aber auch die Abstraktion konkreter Schuld.

Sartre war selbst verantwortlich für diese Lesart: In einem Vorwort zur deutschen Übersetzung seines Theaterstücks »Die Fliegen«, das im Sommer 1943, unter deutscher Besatzung, uraufgeführt wurde, verglich er die Situation, in der er »Die Fliegen« schrieb, mit der des niedergeworfenen Nazi-Deutschland: Entweder schicke man sich in die Niederlage, oder man versuche, sich »gegen die Behauptung zu wehren, dass eine Niederlage das Ende alles dessen bedeutet, was das menschliche Leben lebenswert macht«. Dass er zugleich auch anmerkte, dass »nicht eine willfährige Selbstverleugnung ihnen (den Deutschen) jenen Pardon verschafft, den die Welt ihnen gewähren kann«, sondern nur »eine totale und aufrichtige Verpflichtung auf die Zukunft«, also auf gesellschaftliche Konsequenzen, macht den Vergleich umso unverzeihlicher.

Sartre schrieb dieses Vorwort in den vierziger Jahren, als er sich der Kommunistischen Partei Frankreichs annäherte. Die Auseinandersetzung mit den Kommunisten und dem real existierenden Sozialismus wurde Sartres philosophisch produktivste Zeit, er entwickelte in Marxismus und Existenzialismus eine Methodologie, die er in »Zur Kritik der dialektischen Vernunft« fortsetzte: Seine Kritik des Marxismus war eine Abrechnung mit dem offiziellen Marxismus-Leninismus und eine Verteidigung der Philosophie gegen ihre Aufhebung. Sartre warf den Kommunisten vor, zu Gunsten der Verteidigung der Sowjetunion die Gesellschaftskritik aufzugeben.

Zusammen mit Maurice Merleau-Ponty formulierte Sartre in der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Les Temps modernes schon 1950, vor dem Hintergrund der großen Nachkriegs-Säuberungswelle in den sozialistischen Staaten, seine Position gegen die Totalitarismus-Ideologie. Zum einen kritisieren Sartre und Merleau-Ponty die Sowjetunion scharf: »Vor zwei Jahren schrieb einer von uns in dieser Zeitschrift, dass die sowjetische Gesellschaft zwiespältig sei, dass in ihr sowohl Anzeichen des Fortschritts wie Symptome der Regression anzutreffen seine. Wenn sich aber zehn Millionen Menschen in Konzentrationslagern befinden (...), dann schlägt die Quantität in Qualität um, dann kehrt sich das ganze System um und bekommt einen ganz anderen Sinn.« Man müsse sich fragen, »was uns noch dazu berechtigt, in Bezug auf dieses Land von Sozialismus zu reden«. Aber trotzdem müsse man den Vergleich zu den Nazi-Lagern ablehnen, denn in den sowjetischen Lagern finde man weder »den Sadismus noch die Religion des Todes, noch den Nihilismus, die - paradoxerweise mit präzisen Interessen vermischt, bald im Einklang, bald im Kampf mit ihnen - am Ende die Vernichtungslager der Nazis hervorgebracht haben.«

Die Spannungen des Kalten Krieges verursachten in Westeuropa eine Spaltung der Organisationen der Überlebenden des Nazi-Terrors. Auf der einen Seite standen die Kommunisten, die in den Augen von Merleau-Ponty und Sartre schlicht »dumm« waren, als sie die Nachrichten über die Lager in der Sowjetunion als Lüge abtaten. Auf der anderen Seite jene, die Nazi-Deutschland und die Sowjetunion verglichen. Ihnen hielten sie vor, die Gefangenen des franquistischen Spanien und die auf Inseln deportierten Griechen über ihren Attacken gegen die SU zu vergessen. Beide Seiten kritisierten sie, weil »nicht einmal die Erfahrung eines absoluten Schreckens der Konzentrationslager eine Politik bestimmen kann«. Die »ehemaligen Deportierten«, schließen Merleau-Ponty und Sartre, seien »nur dann sich selbst treu, wenn sie nach einer Politik suchten, die sie nicht dazu zwingt, ihre Deportierten zu wählen«. Sartre war immer bemüht, den nationalen antifaschistischen Nachkriegskonsens zu erhalten. Schließlich war es die Erfahrung der Kollaboration mit den deutschen Besatzern in Frankreich von 1940 bis 1944, die Sartres Verständnis des »Engagements« prägten.

Sartre war eingezogen worden und erlebte im Norden Frankreichs den dr(tm)le de guerre, jene absurde Situation nach dem Herbst 1939, als Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatte, aber nicht angriff. Als die Deutschen kamen, kam auch er in Kriegsgefangenschaft. Er begann, unter dem Eindruck seiner Heidegger-Lektüre »Das Sein und das Nichts« zu schreiben. 1943, unter deutscher Besatzung, erscheint das Buch, in dessen Mittelpunkt, so Sartre, die »Entdeckung des Bewußtseins als Nichts« steht, eine Entdeckung, die er schon in den dreißiger Jahren gemacht hatte und in »Der Ekel« beschrieben ist: Der Ekel des bürgerlichen Subjekts vor sich selbst triumphiert im Ekel vor den Dingen. Hier entwickelt sich schon die zentrale Differenz zu Heidegger: Nicht zum Sein, sondern zum Handeln verurteilt die Freiheit den Menschen. Auch wenn er das Sein wählt, heute würde man sagen: den Objektstatus, ist es noch immer seine Wahl, die er vor dem Hintergrund vorhandener Alternativen traf.

Der Bürger machte die Entdeckung, dass sein Arrangement mit den Verhältnissen ihn zum Komplizen oder zum Verbrecher werden ließ. Sartre wurde und wird oft selbst der Kollaboration bezichtigt, weil er unter deutscher Besatzung veröffentlichte. Außerdem wird von Lévy angeführt, Sartre habe die Stelle eines relegierten jüdischen Lehrers in Lille übernommen. Später notierte Sartre: »Niemals waren wir freier als unter deutscher Besatzung.« Zugleich war die Besatzung »oft schrecklicher als der Krieg»: »Denn im Kriege kann jeder das tun, was er als Mensch zu tun hat, während wir in dieser zweideutigen Lage wirklich weder handeln noch auch nur denken konnten.« Noch im letzten Jahr der deutschen Besatzung avancierten er und Albert Camus zu Idolen einer Generation, die unter der Besatzung ihrer moralischen Überlieferungen verlustig gegangen war. Aus dem Gymnasiallehrer wurde »ein Schriftsteller, der Widerstand leistete, kein Widerstandskämpfer, der schrieb«.

Gerade aus jener Erfahrung heraus, die Horkheimer und Adorno die Praxis »verstellten«, leitete Sartre also den »Zwang zur Positivität« ab und legitimierte die Praxis, um deren Begrenztheit er wusste. Nach der Zeit des Antifaschismus, des Kalten Krieges und des algerischen Befreiungskampfes, begann er, nur wenige Jahre vor 1968 ein monumentales Werk über Gustave Flaubert zu schreiben. Der »Idiot der Familie« ist eine Analyse der bürgerlichen Subjektivität des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte zu Sartre und seiner intellektuellen Generation. Sartre begriff das vierbändige Werk, das er wegen des Verlusts seiner Sehkraft nicht vollenden konnte, als Fortsetzung von Marxismus und Existenzialismus. Seine Ausgangsfrage: »Was kann man heute von einem Menschen wissen?«

Sein letztes Lebensjahrzehnt war geprägt durch seine Krankheit, aber zugleich durch sein »Engagement«. Sartre, der ein Linker bleiben wollte, erlebte, wie sich die jungen Genossen der Gauche prolétarienne, die gestern noch Maoisten waren, zu Rechten entwickelten. Seine eigenen Interventionen verloren, offensichtlich unter Einfluss dieser Ex-Linken, die ihn nach wie vor als Galionsfigur brauchten, in dem Maße an Trennschärfe, wie sich das politische Koordinatensystem der Nachkriegszeit auflöste; und er, der noch 1964 den Nobelpreis für Literatur ablehnte, konnte oder wollte sich dem selbst geschaffenen Zwang nicht mehr entziehen.