Stasi-Protokolle über Kohl

Der Wolf im Kanzler-Ohr

Die brutalstmöglichen Aufklärer hatten ihr Hauptquartier in der Berliner Normannenstraße. Doch wenn es ans Eingemachte geht, entdeckt die bürgerliche Demokratie plötzlich die Quellenkritik.

Nein, an der DDR war nicht alles schlecht. Man muss auch nicht unbedingt Mitglied der Kommunistischen Plattform sein, um selbst dem Überwachungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ein paar positive Dinge abzugewinnen: Mal abgesehen von der teils durchaus gelungenen Literatur- und Kunstkritik im Innern sorgten die Dederon-Mantel-Träger immerhin dafür, dass die Mächtigen im Westen sich nicht vollkommen sicher fühlen konnten.

So mancher Skandal über Kriegsverbrecher und Nazi-Schergen, die nach dem Ende des Dritten Reiches ihre Karriere in der bundesrepublikanischen Wirtschaft oder Politik fortgesetzt hatten, wäre kaum ans Licht gekommen, hätte es nicht hie und da von der anderen Seite der Mauer ein paar wertvolle Tipps an westdeutsche Publikationen gegeben. Dafür, dass die Stasi so manchen Nazi über die Klinge springen ließ, kann man ihr nur dankbar sein - auch wenn das an der Verfasstheit der BRD kaum etwas änderte.

Doch wie das mit dem Realsozialismus nun einmal so ist: Es wäre viel mehr drin gewesen. Nicht nur beim Aufbau einer freien und klassenlosen Gesellschaft hat die Staats- und Parteiführung versagt. Auch in Sachen Destabilisierung der BRD hätte man sich mehr erwarten können. Schließlich - das zeigt der CDU-Parteispendenskandal - war die Staatssicherheit über die politische Szene der BRD hervorragend informiert. Die Stasi wusste dank ausgeklügelter Abhörtechnik und gut geschultem Agentenpersonal genau, was in bundesrepublikanischen Parteien und Kabinetten abging. Dabei entgingen ihr, so brüsten sich frühere Stasi-Leute heute, weder die Flick-Spenden noch die späteren illegalen Finanzgeschäfte der CDU. »Lange bevor die illegale Spendenpraxis des Flick-Konzerns der Öffentlichkeit bekannt war, waren wir bis in die Details informiert«, schreibt Markus Wolf - der einstige Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (HAV), des Auslandsnachrichtendienstes der DDR - in seinen letztes Jahr erschienenen »Erinnerungen«.

Ende März wurde bekannt, dass die Stasi nicht nur in Sachen Flick den bundesdeutschen Staatsanwaltschaften, Nachrichtenmagazinen und sonstigen investigativen Journalisten um Jahrzehnte voraus war. Auch über die schwarzen Kassen und versteckten Konten in der Schweiz, in Liechtenstein und Luxemburg, dank deren die Christdemokraten auch nach dem Flick-Skandal mit Barem von der Großindustrie versorgt wurden, war die Staatssicherheit gut informiert. Denn die DDR-Auslandsaufklärung hatte die Hauptfiguren der derzeitigen CDU-Spendenaffäre schon früh ins Visier genommen. So wurde der Generalbevollmächtigte der CDU, Uwe Lüthje, zwischen 1976 und 1988 systematisch von der Stasi abgehört. Die von der Stasi gesammelten Unterlagen und Abhörprotokolle über den einstigen CDU-Bundesschatzmeister Walther Leisler Kiep sollen 900 Seiten umfassen.

Noch um einiges dicker dürfte die Akte über die Hauptperson des Spendenskandals ausgefallen sein. Denn natürlich hatte das Ministerium für Staatssicherheit auch CDU-Parteichef Helmut Kohl angezapft. Die Staatssicherheit tat das, was Aufgabe der bundesdeutschen Justiz gewesen wäre, wenn diese die Verfolgung der organisierten Kriminalität ernst genommen hätte. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr soll Kohl von der Stasi überwacht worden sein. Nach Angaben der Berliner Zeitung war Kohl spätestens seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz 1975 Zielperson des MfS. Wöchentlich habe die Stasi 25 bis 30 Seiten Abhörprotokolle über den CDU-Kanzler erstellt. 30 Mitarbeiter aus dem nächsten Umfeld Kohls seien ebenfalls überwacht worden - von seiner Sekretärin Juliane Weber bis hin zu Staatsminister Philipp Jenninger, berichtet die Zeitung.

Doch die Stasi nutzte das Material nicht - oder viel zu spärlich. Aus der Flick-Affäre hielten sich die Geheimdienstler vollkommen heraus - vor allem, sagt Markus Wolf, weil man die eingeschleusten Agenten habe schützen wollen. Die DDR ist Geschichte. Und derzeit deutet vieles darauf hin, dass die Akten der Staatssicherheit über die CDU und ihre Finanzen auch in der Berliner Republik keine angemessene Verwendung finden werden.

Zwar hat der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten, Joachim Gauck, bereits angeboten, dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zur CDU-Spendenaffäre die Kohl-Unterlagen auszuhändigen. Doch der Ausschuss will davon offensichtlich keinen Gebrauch machen. Dabei hat Gauck in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass das Stasi-Unterlagengesetz die Verwendung von Akten, die Personen der Zeitgeschichte betreffen, durchaus erlaube - auch wenn man auf die Privatsphäre der Betroffenen Rücksicht nehmen müsse. Informationen zu Bereichen, in denen diese Personen in ihrem Amt oder mit ihrer politischen Funktion agierten, könnten bei begründeten Anträgen weitergegeben werden, so Gauck. Diverse Abhörprotokolle der Stasi seien ohnehin schon vorher verwendet worden. Bei Kohl dürfe da keine Ausnahme gemacht werden.

Nicht zuletzt zur Aufklärung von Panzer-Deals mit Saudi-Arabien könnten die Abhörprotokolle beitragen - der eigentlichen Aufgabe des Bundestags-Untersuchungsausschusses. Doch dessen Vorsitzender Volker Neumann (SPD) lehnte die Gauck-Offerte dankend ab. Und auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse empfahl dem Ausschuss, dieses »rechtswidrig erworbene Wissen« nicht zu verwenden.

Mit Hilfe seiner Anwälte läuft der Ex-Kanzler Sturm gegen die Herausgabe seiner Stasi-Unterlagen - zur Not wolle er bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, erklärten seine Juristen letzte Woche. Dass er dabei gegen ein Gesetz vorgehen würde, das er einst selbst unterschrieben hat - das Stasi-Unterlagengesetz von 1991 - hat seine innere Konsequenz. Schließlich scherte sich Kohl auch um das von ihm gegengezeichnete Parteiengesetz nicht.

Kohl steht mit seiner Auffassung nicht allein. Politiker fast aller Parteien wollen die Kohl-Akten lieber in der Schublade lassen. Auch solche Rechtsstaatsverteidiger, die ansonsten wenig Hemmungen beim Umgang mit persönlichen Stasi-Akten zeigten und auch nichts dagegen einzuwenden hatten, wenn die Gauck-Behörde in regelmäßigen Abständen brisantes Material an ausgesuchte Medien weitergab - vor allem, wenn es dabei gegen PDS-Politiker ging.

So will SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering die Kohl-Akten ebensowenig verwendet wissen wie Wolfgang Gerhardt (FDP). Auf dessen Vorschlag hin soll nach der Osterpause ein Gespräch mit allen Bundestagsparteien - die PDS ausgenommen - stattfinden, bei dem über die weitere Behandlung der Stasi-Unterlagen im Zusammenhang mit dem CDU-Spendenskandal beraten werden soll. Ausgang gewiss: Die Akten sollen unter Verschluss bleiben.

Dafür, dass es spannend bleibt, sorgte letzte Woche noch eine kleine Meldung aus der bayerischen Landeshauptstadt. Der Focus bekam aus interessierten Kreisen gesteckt, dass beim bayerischen Amt für Verfassungsschutz noch Stasi-Akten lagern sollen, die der Verfassungschutz gleich nach dem Mauerfall für teures Geld von wendigen Stasi-Mitarbeitern erworben hat - darunter auch Unterlagen über ranghohe sozialdemokratische Politiker.

Vielleicht hat die Stasi also doch Recht damit gehabt, all das Material über die illegalen Machenschaften der westdeutschen Parteien lieber unter Verschluss zu halten. Denn wer hätte dieses Herrschaftswissen zur Union je besser gebrauchen können als die Christdemokraten und -sozialen selbst?