US-Gewerkschaften und Migration

Mehr Greencards, höhere Grenzzäune

Der US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO setzt sich für die Legalisierung aller Einwanderer ohne Papiere ein.

Abschiebungen verlaufen meist im Stillen, nur selten kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen. Dies ist meist nur dann der Fall, wenn prägnante Einzelfälle symbolisch für viele ähnliche stehen, die niemals öffentliche Beachtung gefunden haben. So ist wohl auch die Aufregung um die drohende Abschiebung von neun lateinamerikanischen Einwanderern ohne Papiere in Bloomington im US-Bundesstaat Indiana zu verstehen.

Hunderte Gewerkschafter und Aktivisten der Latino-Bewegung protestierten dort letzte Woche vor dem Gebäude der Einwanderungsbehörde INS, als die neun von einem Abschieberichter verhört wurden. Selbst der Vorsitzende des 13 Millionen Mitglieder zählenden US-Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO, John Sweeney, trat vor die Presse und setzte sich nachdrücklich für die »Illegalen« ein.

Die neun Arbeiter waren im Oktober letzten Jahres von ihrem Chef bei Holiday Inn in Minneapolis wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten gefeuert worden. Zwar muss das Unternehmen den Entlassenen eine Abfindung zahlen, weil die Kündigungen unrechtmäßig waren, aber die Gefeuerten sind durch den Konflikt in die Fänge der Einwanderungsbehörde geraten. Und die will die Gewerkschaftsaktivisten ohne Papiere nun zurück nach Mexiko schicken - so wie jedes Jahr 1,5 Millionen andere Einwanderer, gegen deren Abschiebung selten jemand protestiert.

Der Fall steht symbolisch für ein soziales Problem, das mehr und mehr auch die Gewerkschaften in den USA angeht. Die sechs Millionen Einwanderer ohne Papiere, die nach Schätzungen in den USA leben, müssen wegen ihrer schwierigen sozialen Situation oft jeden Job annehmen. Das nutzen Unternehmer zum Lohn-Dumping und zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten. Wehren können sich die »Illegalen« schlecht. Sobald sie an die Öffentlichkeit treten, droht die Abschiebung. Die Arbeitskräfte mit Papieren reagieren auf die ungebetene Billig-Konkurrenz nicht selten mit rassistischen Ressentiments.

Lange hat sich AFL-CIO um das Problem gedrückt oder gar den Standort-Rassismus vieler Mitglieder bedient. Umso überraschender war die Wende, die der Verband nun vollzogen hat. Auf einer Tagung Mitte Februar beschloss der Exekutivrat, eine Kampagne für die sofortige Legalisierung des Aufenthaltsstatus aller sechs Millionen Einwanderer ohne Papiere zu starten. »Arbeiter ohne Papiere und ihre Familien bringen sich enorm in ihre Gemeinden und Arbeitsplätze ein. Sie sollten einen permanenten legalen Status durch ein neues Amnestie-Programm erhalten«, heißt es in einer Resolution. So soll das Ausspielen der »illegalen« gegen die legalen Lohnarbeiter verhindert werden.

Gleichzeitig fordert AFL-CIO die Bestrafung von Unternehmen, die Arbeiter ohne Papiere beschäftigen, um sie wegen ihres prekären Status besonders auszuquetschen. Außerdem soll nach dem Willen der Gewerkschafter ein Gesetz von 1986 zurückgenommen werden, das die Beschäftigung von »Illegalen« generell verbietet. Denn diese Maßnahme, welche AFL-CIO bei ihrer Verabschiedung unterstützt hatte, diskriminiere all jene, die nach der neuen Beschlusslage des Verbandes ja gerade entkriminalisiert werden sollen.

»Die Veränderung der Position von AFL-CIO ist das Ergebnis des Drucks von unten«, meint David Bacon vom Labor Immigrant Organizers Network (Lion) aus Kalifornien. »Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass die Gewerkschaften Einwanderer organisieren und ihre Interessen verteidigen sollen, statt sie auszugrenzen«, sagt er. Die Aktivisten brachten auf dem AFL-CIO-Gewerkschaftstag im letzten Oktober in Los Angeles eine Resolution mit der Forderung nach Amnestie für kriminalisierte »Illegale« ein, die dort mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Der Beschluss des Exekutivrates vom Februar folgte diesem Votum.

Die US-Gewerkschaften haben damit auf eine Entwicklung reagiert, die sich bereits seit Jahren abzeichnet. Eine Möglichkeit, dem Mitgliederschwund und dem politischen Bedeutungsverlust zu entgehen, ist die gezielte Organisierung von Einwanderern. »Eingewanderte Arbeiter bilden bereits einen großen Teil der Mitgliedschaft wichtiger Gewerkschaften. Viele Gewerkschaften hängen in wachsendem Maße vom hohen Niveau ihres gewerkschaftlichen Bewusstseins und ihrer Einsatzbereitschaft ab, um neue Mitglieder und neue Betriebe zu organisieren«, meint Bacon.

Vor allem unter den 30 Millionen eingewanderten Latinos, die nun die US-Staatsbürgerschaft besitzen, reagieren viele positiv auf die Gewerkschaften. Ein Grund dafür ist, dass sie in ihren Herkunftsländern häufig bereits Erfahrung in sozialen Kämpfen sammeln konnten. Andererseits sind ihre Arbeitsbedingungen in den USA besonders mies - ob sie nun Papiere haben oder nicht.

Ein besonders markantes Beispiel für die Entwicklung stellt die Angestelltengewerkschaft SEIU dar. Sie gehört zu den am schnellsten wachsenden Gewerkschaften in den USA und zählt heute 1,3 Millionen Mitglieder. Bereits 1985 hatte sie die Kampagne Justice for Janitors gestartet, mit der sie bessere Bezahlung und Arbeitsverhältnisse für die Beschäftigten der großen Reinigungsfirmen forderte.

990 hatten die Janitors in Los Angeles einen militanten Streik durchgeführt, der zu einem Erfolg wurde. Und auch in den ersten drei Aprilwochen streikten wieder 8 000 Janitors in Los Angeles und blockierten mit dem Ruf »Mucho trabajo, poco dinero« - »Viel Arbeit, wenig Geld!« - die Eingangsbereiche der Wolkenkratzer, die sie ansonsten säubern müssen. Die Mehrheit der Streikenden waren eingewanderte Latinos, viele von ihnen ohne Papiere. Während in Bloomington über die Abschiebung der Holiday-Inn-Geschädigten verhandelt wurde, konnten sie eine Lohnerhöhung durchsetzen.

Die aggressive Strategie der SEIU hat sich in den letzten Jahren ausgezahlt. Für ihre Mitglieder durch mehr Lohn und für die Gewerkschaft durch den Anwachs der Mitgliederzahlen. Besonders John Sweeney hat gewonnen. Er war bis 1995 SEIU-Vorsitzender und Initiator von Kampagnen wie Justice for Janitors. Dann wurde er wegen der Erfolge zum AFL-CIO-Chef gewählt.

Seitdem versucht er mit seinen Kollegen die Politik des gesamten Verbandes zu ändern. Priorität hat die Mitgliederwerbung. Schwerpunkt sind dabei »ethnische Minderheiten«, Jugendliche und Frauen, alles Gruppen, die bisher in der Gewerkschaft nur unterdurchschnittlich organisiert waren. Letztes Jahr konnte AFL-CIO so zum ersten Mal seit Beginn der fünfziger Jahre ein leichtes Wachstum verzeichnen.

Die neue Orientierung bedeutet allerdings nicht unbedingt eine Demokratisierung der autoritären Strukturen der Gewerkschaften. Sobald die neuen Mitglieder ihre Rechte vertreten wollen und nach Posten und Macht greifen, werden sie von den weißen Männern in den Vorstandsetagen meist zurückgesetzt. Dennoch hat die neue Orientierung des AFL-CIO Beschlüsse wie den vom Februar möglich gemacht.

Sieht man sich die US-Einwanderungspolitik der letzten Jahre allerdings genauer an, so relativiert sich auch der emanzipatorische Gehalt des Legalisierungsvorschlags. Bereits 1986 wurden durch den Immigration Reform and Control Act (IRCA) über eine Million Papiere an »Illegale« verteilt. Das war unter dem republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan.

Falls sich der Präsidentschaftsanwärter der Demokraten, Al Gore, bei den Wahlen im November durchsetzt, ist es möglich, dass er auf den AFL-CIO Vorschlag eingehen wird. Vor zwei Wochen hat er sich beim Janitor-Streik in Los Angeles demonstrativ hinter die Forderungen der Gebäudereiniger gestellt.

Eine Amnestie würde wohl auch von zahlreichen Unmternehmern begrüßt. Dort ist man wegen des Vorgehens der Einwanderungsbehörde INS gegen die Arbeiter ohne Papiere so genervt, dass viele sich öffentlich für ein Ende der Razzien einsetzen. Um Nachschub billiger Arbeitskräfte aus dem Süden müssen sich die Chefs keine Sorgen machen.

So könnte sich eine Lösung entwickeln wie schon 1986: Papiere für alle, die schon da sind. Und gleichzeitig höhere Grenzbefestigungen gegen neue Zuwanderer. Ob die neun von Holiday Inn Gefeuerten dann legalisiert werden oder nicht, entscheidet sich allerdings bereits in diesen Tagen an der Mobilisierungkraft ihrer Kollegen.