Tanil Bora, Herausgeber der türkischen Zeitschrift 'Birkim'

»Ein Präsident ohne Eigeninitiative«

Im vergangenen Jahr hatte der Präsident des türkischen Revisionsgerichts, Sami Selçuk, gegen das Establishment gepoltert (Jungle World, 38/99). Richter ist Richter und Türke ist Türke, sagt sich die deutsche Presse, verwechselt Selçuk mit dem letzte Woche zum Staatspräsdenten gewählten Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, Ahmet Necdet Sezer, und feiert ihn als Vorboten der Demokratie am Bosporus. Wie aber nehmen Linke die neuen Entwicklungen wahr? Tanil Bora ist Politologe und Mitherausgeber der sozialistischen Kulturzeitschrift Birikim, dem Forum der intellektuellen Linken in der Türkei.

Mit dem Abtritt von Süleyman Demirel geht in der Türkei eine vierzigjährige Ära zu Ende. In seiner letzten Funktion als Staatspräsident galt er als Sprachrohr des Militärs. Wie wird das Land ohne Demirel aussehen und wer wird ihn vermissen?

Es wäre falsch, in Demirel nur den Sprecher des Militärs zu sehen. Er fungierte als Sprecher des Mitte-Rechts-Spektrums und des Großkapitals gegenüber dem Militär und zugleich als Sprecher des Militärs gegenüber diesen Kreisen. Dass er sich in der letzten Phase so stark mit der Armee identifiziert hat, lag nicht zuletzt an dem Bedeutungsverlust der traditionellen Rechten. Aber im politischen System wird er nicht fehlen, denn in Folge des kurdischen Krieges und der Militärintervention gegen den politischen Islam hat sich der Spielraum für die Politik erheblich verringert. Mit dem Militär im Zentrum hat sich eine Cäsaren-Herrschaft etabliert, die dennoch ohne herausragende Einzelpersonen auskommt.

Ist es also egal, wer zum Präsidenten gemacht wird?

Die Wahl Ahmet Necdet Sezers ist auch Ausdruck einer Unzufriedenheit innerhalb der politischen Kaste. Alle Parteien möchten sich einen größeren Handlungsspielraum verschaffen. Und weil sie annehmen, dass ein Präsident ohne Eigeninitiative für diesen Zweck eher dienlich ist, haben sie sich für einen wie Sezer entschieden.

Die Politik stagniert. Es gibt eine Ballung im politischen Zentrum, selbst die scheinbar stärkste Partei erreicht kaum die Zwanzig-Prozent-Marke. Wähler und Kader aller Parteien wissen, dass die Politik kaum über eigene Gestaltungsmöglichkeiten verfügt, was für die Legitimation des Regimes und das politische Geschäft ein ernsthaftes Problem darstellt. Daher erfordert die politische Technologie etwas mehr Beweglichkeit und eine Normalisierung. Denn die Intervention des Militärs gegen den politischen Islam hat in allen gesellschaftlichen Bereichen autoritäre Eingriffe zur Folge gehabt. Dieses Zuviel an Einengung soll nun aufgelockert werden.

Dennoch verlief die Wahl nicht reibungslos.

Sezer war der gemeinsame Kandidat aller im Parlament vertretenen Parteien, einschließlich der neofaschistischen MHP und der islamistischen Tugendpartei. Widerspruch kam nur von den radikalen Flügeln der jeweiligen Parteien. Diese Opposition war weniger inhaltlich begründet und auch nicht ergebnisorientiert, sondern zielte darauf, in den internen Auseinandersetzungen zu punkten.

In Teilen der türkischen und westlichen Presse wird Sezer, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, als vielleicht »erster Präsident einer türkischen Zivilgesellschaft« gehandelt. Sind diese Erwartungen begründet?

Sie sind etwas zu optimistisch, aber nicht völlig unbegründet. Sezer scheint in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte fortschrittlicher als der Durchschnitt der politischen Eliten zu sein. Ein etwas offenerer Staatspräsident erweckt Hoffnungen, markiert aber allein nicht den Beginn tief greifender Veränderungen. Sezer selbst ist keine Kraft, die autonom agieren könnte. Schließlich kommt er aus dem Establishment und wird sich an die staatstragenden Regeln halten. Dass liberale und der Linken nahe stehende Kreise Sezer stützen, gründet sich auf taktische Erwägungen.

Außerdem: Zivilgesellschaft ist kein Wert an und für sich. Auch die während des Fußballspiels zwischen Galatasaray und Leeds in eine chauvinistische Hysterie verfallenden Massen gehören zur Zivilgesellschaft; die MHP verfügt über eine starke Massenbasis, auch das ist Zivilgesellschaft. Der Kampf um Demokratisierung muss auch innerhalb der Zivilgesellschaft geführt werden.

Aus der aktuellen Medien-Berichterstattung gewinnt man den Eindruck, dass ein Wandel bereits eingeleitet sei. Andererseits bestätigt selbst ein vergangene Woche vom Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments vorgelegter Bericht, dass Folter in Polizeirevieren weiterhin Praxis ist.

Die Menschenrechtsverletzungen nehmen nicht nennenswert ab. Nur in einem Punkt ist eine relative Verbesserung zu beobachten: in der Kurden-Frage. Diese Neuerung ist kein freiwilliger Kurswechsel, sondern resultiert aus dem Sieg des Staates.

Im Kurden-Konflikt gab es keinerlei Zugeständnisse, sieht man von der aus taktischen Gründen ausgesetzten Vollstreckung des Todesurteils gegen Abdullah Öcalan ab.

Richtig. Der Staat macht offiziell keine Zugeständnisse. Im Alltag aber, insbesondere im Südosten, versucht er sich in einer vorsichtigen Aufweichung. Ich sage »versucht«, weil von einem systematischen Vorgehen keine Rede sein kann. Es geht um Akte einer symbolischen Toleranz.

Wie äußert sich das?

In manchen Provinzen werden kurdischsprachige Medien geduldet, früher nicht erlaubte Veranstaltungen können durchgeführt werden. Ein triviales Beispiel: Das Finale um den Fußballpokal fand in Diyarbakir statt. Die Innenfassade des Stadions wurde in den Vereinsfarben Galatasarays Gelb und Rot gestrichen, was zusammen mit dem grünen Fußballrasen ein Gesamtbild ergab (die kurdischen Farben; D.Y.). Noch vor einigen Jahren war diese Farbkomposition ein Tabu, stellenweise wurde selbst in Verkehrsampeln das grüne Licht durch blaues ersetzt.

Mehr als Symbolik ist, dass extralegale Hinrichtungen nicht mehr routinemäßig durchgeführt werden. Aber trotz dieser im Alltag spürbaren Veränderungen ist noch immer nicht abzusehen, ob diese Tendenzen in begrenzte Zugeständnisse münden oder in eine erneute Verhärtung umschlagen werden. Innerhalb der kurdischen Bevölkerung und bei den Intellektuellen ist ein deutlicher Optimismus vorhanden. Der Linken fällt es schwer, diesen Optimismus nachzuvollziehen.

Ist diese Haltung nicht Ausdruck einer Paralyse der kurdischen Bewegung? Ihr bleibt nach der Kapitulation nichts, als auf den Goodwill des Staates zu hoffen.

Bei den PKK-nahen Gruppen ist das der Fall. Anders sieht es bei unabhängigen Intellektuellen oder kleinen ex-linken Gruppen aus. Sie mussten sich lange zwischen zwei Fronten ducken und kommen nun zu Wort. In ein, zwei Jahren könnten solche unabhängigen Initiativen größeren Einfluss gewinnen.

Dabei ist ein Punkt sehr wichtig: Der hegemoniale Block will der EU beitreten und ist bereit, alle notwendigen Konzessionen zu machen. Nur soll das nicht offen geschehen. Manche Fraktionen innerhalb des Staates, vor allem der Sicherheitsapparat, sind bestrebt, ihren Einfluss zu wahren. Mit Sicherheit lässt sich voraussagen, dass in der Türkei bestimmte Reformen durchgeführt werden. Aber der hegemoniale Block wird die Fassade reformieren und sich Vorbehalte und Auswege offen halten. Ich denke aber, es wird sich eine Opposition formieren, der es um inhaltliche Reformen geht. Gerade hier wird diese neue kurdische Initiative an Bedeutung gewinnen.

Wer könnte noch das Subjekt einer solchen Opposition bilden? Gibt es jenseits der Kurden und von Teilen des Kapitals eine gesellschaftlich relevante Opposition?

Von der Linken geht in der EU-Frage keine sinnvolle Opposition aus. Die sozialdemokratische wie die sozialistische Linke ist bedeutungslos. Die sozialdemokratische CHP sitzt nicht im Parlament und ist mit einer irrationalen Laizismus-Manie behaftet, die alle anderen Themen als zweitrangig betrachtet. Die Strömungen der sozialistischen Linken sind marginalisiert. Ihre Auseinandersetzung mit den Fragen Demokratisierung und EU-Beitritt geht über einen abstrakten Antiimperialismus nicht hinaus. Anstatt eine eigene Politik zu entwickeln, begnügt man sich mit der Kritik der gegebenen Verhältnisse und betreibt eine Art Self-Entertainment. Eine Antwort auf die mit dem EU-Beitritt verbundenen Widersprüche kann die Linke nur in der politischen Praxis finden, die auch eine - nicht nur verbal - internationalistische sein muss.