Marco Boato, Abgeordneter der italienischen Grünen

»Die öffentliche Meinung ist auf der Seite von Sofri«

Freisprüche für Giulio Andreotti und Silvio Berlusconi, eine Verurteilung zu mehr als zwanzig Jahren Haft wegen Mordes an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi für Ovidio Bompressi, Giorgio Pietrostefani und Adriano Sofri, drei ehemalige Mitglieder der außerparlamentarischen Organisation Lotta continua - die italienische Justiz ist nie um originelle Urteile verlegen. Vergangene Woche hat das Internationale Parlament der Schriftsteller einen Appell an den italienischen Staat und die EU zum Fall Sofri veröffentlicht, in dem die drei als Opfer eines »skandalösen« politischen Urteils bezeichnet werden. Die Verurteilung für die Ermordung Calabresis basiert auf den Aussagen eines unglaubwürdigen Kronzeugen (Jungle World, 34/97 und 28/98). Marco Boato war Mitglied von Lotta continua. Heute sitzt er für die Grünen im italienischen Parlament.

Seit 1988 läuft die Justizfarce gegen Bompressi, Pietrostefani und Sofri wegen der Ermordung des Kommissars Calabresi im Jahre 1972. Wie stehen heute die Chancen auf einen Freispruch?

Die Situation hat sich im letzten Jahr weiter verschlechtert. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde von zwei Gerichten in Mailand und Brescia abgelehnt. Schließlich wurde im Januar der Revisionsprozess auch in Venedig mit einer Verurteilung von Bompressi, Pietrostefani und Sofri abgeschlossen. Nachdem Sofri im August 1997 auf freien Fuß gesetzt worden war, ist er seit Januar wieder in Pisa im Gefängnis. Sofri verlangt Gerechtigkeit und will deshalb ein weiteres Mal in die Revision gehen. Jetzt müssen wir bis zum Herbst warten, bis wir eine Antwort vom Kassationsgericht erhalten - hoffentlich eine positive.

Gibt es eine negative Entscheidung, ist dies das definitive Ende des Prozesses. Das wäre wie ein Grabstein für die drei. Bei einer positiven Entscheidung könnte es zu einem neuen Revisionsverfahren in Triest kommen.

Welche Bedeutung hat der Appell der Schriftsteller in Ihren Augen?

Dass er eine große Wirkung haben wird, glaube ich nicht. Viel wichtiger ist, dass der Appell derzeit in den Schlagzeilen der Massenmedien auftaucht und dass Sofri selbst aus seiner kleinen Zelle in Pisa sehr viel veröffentlicht - Artikel, die oft auf den ersten Seiten der italienischen Zeitungen erscheinen. Natürlich ist der Appell des Internationalen Parlaments der Schriftsteller ein positiver Fakt. Er trägt dazu bei, dass man weiter über den Fall Sofri spricht - sei es in der linken, aber auch in der rechten Presse, beispielsweise in der Tageszeitung Il Foglio, die zum Teil Berlusconi gehört. Die großen Zeitungen Corriere della Sera und Repubblica sind dafür eingetreten, dass mit politischen Mitteln eine Freilassung bewirkt wird. Das wäre vor ein paar Jahren sehr viel schwieriger gewesen. Die Kampagne ging damals von Freunden, ehemaligen Genossen wie mir oder einzelnen Gruppen linker Intellektueller aus. Die öffentliche Meinung war gespalten, es gab viel Misstrauen. Das hat sich vollständig gewandelt. Die öffentliche Meinung ist nun mehrheitlich auf der Seite von Sofri. Doch Sofri ist immer noch im Gefängnis.

Welche politische Dimension sehen Sie in der Verurteilung?

Der Fall Sofri wurde immer auch in der politischen Auseinandersetzung in Italien instrumentalisiert. Beispielsweise wurde dieser Fall in den Mafia-Prozessen benutzt: Man verwies darauf, dass eine Freilassung Sofris die Ermittlungen gegen die Mafia erschweren würde.

Doch vor allem ist inzwischen eine Situation entstanden, in der es den Richtern unmöglich ist, ein gerechtes Urteil im Fall Sofri zu fällen. Sie fürchten eine Diskussion in der Justiz, in der sie sich selbst in Frage stellen müssten. Im Italien der letzten zehn Jahre hat ein Teil der Richter und Staatsanwälte versucht, auf die Politik Einfluss zu nehmen, in einem Moment, in dem die Politik wegen der Korruptionsskandale geschwächt war. Das hat auch dazu geführt, dass sich die Justiz zum Schutz auf sich selbst zurückgezogen, ja geradezu eingemauert hat.

Der Fall Sofri ist auch aus einem anderen Grund ins Zentrum der italienischen Politik getreten: Die Richter verhalten sich so, als hieße ein Freispruch für Sofri zugleich, die anderen Richter zu verurteilen. Auch wenn es verrückt klingt, dass ein Richter nicht nach Schuld oder Unschuld eines Angeklagten urteilt, sondern im Hinblick auf die politischen Konsequenzen des Urteils für seine Kollegen - es ist die Denkart, die in Italien vorherrscht.

Ist das Verfahren gegen die drei nicht auch ein Versuch, mit juristischen Mitteln die Geschichte der Bewegungen ab 1968 neu zu schreiben?

Ja, das stimmt. Wenn man die Geschichte in den Prozessakten im Fall Sofri noch einmal nachliest, kann man diese Geschichte nicht wieder erkennen. Die Geschichte der kollektiven Bewegungen, der sozialen, auch der extremistischen Bewegungen, wird zu einer Geschichte terroristischer Komplotte, zu einer Geschichte voller Mord und Totschlag. Dabei waren diese Bewegungen oft nicht nur gegen das herrschende Staatssystem, sondern auch gegen die, die den politischen Kampf mit dem Tod führen wollten, und lehnten den linken, rechten oder Staatsterrorismus ab.

Der Sofri-Prozess hat jedoch die außerparlamentarischen Bewegungen auf eine terroristische Dimension reduziert. Das ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine historisch-politische Verfälschung. So soll die Bedeutung dieser Bewegungen, die in Wirklichkeit wichtige Spuren nicht nur in der italienischen, sondern in der gesamten europäischen Geschichte hinterlassen haben, zerstört werden.

Hatte auch die Logik des Kalten Krieges Einfluss auf den Prozess gegen Sofri?

Ich glaube nicht, dass der Prozess gegen Sofri ein Instrument des Kalten Krieges gewesen ist. Ganz gewiss wurde er aber von bestimmten Teilen der Staatsorgane instrumentalisiert, vor allem von einem Teil der Carabinieri. Das ist bemerkenswert, denn Calabresi war ein Polizist, kein Carabiniere. In Teilen der Carabinieri herrschte eine enorme Wut auf Lotta continua. So gab es bereits seit 1972 Versuche, den Mord an Calabresi Lotta continua anzuhängen. Wie gegen Sofri wurde 1988 auch gegen mich in diesem Zusammenhang ermittelt. Ich hatte dazu beigetragen, dass 1977 ein Carabinieri-Offizier, ein Offizier des Geheimdienstes und ein hoher Polizist wegen ihrer Beteiligung an mehreren Attentaten im Gefängnis landeten. Dann sind sie freigesprochen worden, wie immer in solchen Fällen. Aber sie waren wegen meiner Anzeige im Gefängnis gewesen. Niemals zuvor hatte es das in der Geschichte Italiens gegeben, dass hohe Offiziere wegen Mittäterschaft bei Attentaten festgenommen wurden. Dies war Lotta continua gelungen. Die Rache ist dann ja gefolgt.

Der Mord an Kommissar Calabresi stand im Zusammenhang mit dem Staatsmassaker auf der Piazza Fontana in Mailand im heißen Herbst 1969. In der Sendung »Kennzeichen D« wurde im Februar erwähnt, dass Guido Giannettini, der angeblich in diesen Anschlag verwickelt war, zugleich ein BND-Mann war. Was hat die Untersuchungskommission zu solchen internationalen Verbindungen herausgefunden?

Ich war lediglich zwischen 1988 und 1992 Mitglied der Commissione Stragi. Es steht aber fest, dass es bei dem Massaker auf der Piazza Fontana eine verdeckte Zusammenarbeit mit dem Amt für vertrauliche Angelegenheiten im Innenministerium und dem militärischen Geheimdienst SID gab. Das ist sicher, auch wenn es auf rechtlicher Ebene bisher kein abschließendes Urteil zu den Vorgängen gibt. Giannettini ist in dem Verfahren zur Piazza Fontana endgültig freigesprochen worden, nun laufen Verfahren gegen andere. Das bedeutet aber nicht, dass Giannettini nichts mit dem Attentat zu tun hatte. Er ist immer wieder im politischen Geschehen aufgetaucht, auch in den Beziehungen zu Deutschland und zur CIA.

In jenen Jahren waren die Verbindungen zwischen den Geheimdiensten in den einzelnen Nato-Staaten sehr eng. Dies entsprach ja auch der militärischen Strategie. Die verschiedenen Geheimdienste hatten ein Interesse, zu verhindern, dass das traditionelle Machtsystem in Italien in Frage gestellt wird, dass ein politisches Gleichgewicht hergestellt wird. Das hätte einen starken Schwenk nach links bedeutet, zugleich jedoch die Kontrolle während dieser Phase der europäischen Geschichte enorm beeinträchtigt. Man muss sich die Situation 1969 vor Augen halten: In Griechenland hatte kurz zuvor der Militärputsch stattgefunden, in Spanien war immer noch die Franco-Diktatur, in Portugal die Salazar-Diktatur an der Macht, und in Frankreich herrschte der Gaullismus.