Udi Dekel, Brigade­general a. D. der IDF, im Gespräch über den Kampf gegen die ­Hamas und die Zukunft des Gaza-Streifens

»Ägypten ist ein Schlüsselfaktor«

Die Kämpfe im Gaza-Streifen dauern an und es ist unklar, wie das Gebiet in Zukunft verwaltet werden soll. Ein Gespräch mit dem ehemaligen IDF-Brigadegeneral Udi Dekel über die Schwierigkeiten, die Hamas zu entmachten, und Möglichkeiten, ihren Einfluss in der Bevölkerung zu schwächen.

Fast ein Jahr nach den Massakern am 7. Oktober 2023 kämpfen die ­israelischen Streitkräfte (IDF) noch immer gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Wie stark ist die Terror­organisation?
Die IDF hat den Krieg in mehrere ­Phasen unterteilt. Zuerst wurden die militärischen und operativen Möglichkeiten der Hamas zerstört, gegenwärtig soll verhindert werden, dass sich die Terrororganisation reorganisiert und weitere Kämpfer rekrutiert, die sie mit allen möglichen Waffen ausrüstet.

»Neben der Hamas im Gaza-Streifen unterstützt der Iran auch die Terror­infrastruktur im Westjordan­land und hofft auf eine weitere Front gegen den jüdischen Staat.«

Trotzdem sind einige Brigaden der Hamas weiterhin kampffähig. Sie fungieren nicht mehr als richtige Brigaden, eher als Terrorzellen, und kämpfen oft auch mit Guerillataktik gegen IDF-Einheiten. Der Hamas ist es wichtig, Macht über die Bevölkerung im Gaza-Streifen zu demonstrieren, wie bei der Verteilung der Hilfsgüter. Israel versucht, das zu unterbinden, aber dies ist ein Prozess, der noch lange dauern kann.

Die Hamas ist auch eine politische Bewegung, die von einem Teil der Bevölkerung unterstützt wird. Ist es trotzdem möglich, diese Terror­organisation zu zerstören?
Ihr Militärapparat kann zerstört werden. Den Geist der Bewegung kann man nicht vernichten, aber wir können dafür sorgen, dass sie irrelevant wird.

Wie schafft man das?
Wahrscheinlich werden 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen weiterhin von der Hamas-Ideologie überzeugt sein. Um die Macht der Hamas zu schwächen, müsste Israel aber auch die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung intensivieren. Es könnten zum Beispiel karitative Enklaven entstehen, wo Konvois von der IDF kontrolliert und beschützt werden, bis sie im Gaza-Streifen die Feldlazarette erreichen, die von Jordanien und den Golfstaaten betrieben werden. Die Hamas, aber auch die zahlreichen kriminellen Familienclans würden nicht wagen, diese anzugreifen.

Und wer wird den Gaza-Streifen langfristig kontrollieren?
Das weiß die israelische Regierung leider immer noch nicht. Die einzige relevante Option wäre die Palästinen­sische Autonomiebehörde (PA). Die ist zwar korrupt, aber gegenwärtig kann man nur zwischen schlecht und noch schlechter wählen. Momentan werden die Menschen im Gaza-Streifen die PA noch nicht akzeptieren, deswegen könnte auch eine Technokratenverwaltung als Übergang helfen.

Wie könnte das aussehen?
Im Gaza-Streifen bestehen noch einige lokale Gemeinden, in denen wenige die Hamas unterstützen. Darüber hinaus leben heute über 100.000 wohl­habende Menschen aus dem Gaza-Streifen in Ägypten, hauptsächlich in Kairo. Die meisten würden zurückgehen und ein neues entmilitarisiertes Gaza aufbauen. Aber sie brauchen die Verbindung zur PA, weil – außer Katar vielleicht – kein gemäßigter arabischer Staat den Wiederaufbau des Küstenstreifens unter der Kontrolle der Hamas akzeptieren wird. Diese Staaten haben auch bereits angedeutet, ihnen ihre volle Unterstützung zu geben, auch in Form einer Truppenstationierung. Dies könnte eine Alternative sein.

»Was man in Deutschland nach 1945 geschafft hat, sollte auch im Gaza-Streifen möglich sein.«

Die Hamas ist aus dem palästinensischen Zweig der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen und hat die Gesellschaft stark geprägt. Wie können extremistische Anschauungen bekämpft werden? Nach dem Vorbild der Alliierten in Deutschland nach 1945?
Nach IDF-Untersuchungen unterstützen ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen die Hamas und die Ideen der Muslimbruderschaft. Das bedeutet nicht, das die anderen Israel nicht feindlich gegenüberstehen. Es benötigt kluge, zielgerichtete ­Investitionen und ein Konzept für eine dauerhafte Deradikalisierung. Dies ist ein Prozess, der Zeit braucht und vor allem in der Bildung beginnt – zum Beispiel bei den Inhalten der Schulbücher. Was man in Deutschland nach 1945 geschafft hat, sollte auch im Gaza-Streifen möglich sein. Allerdings spielt im Nahen Osten auch eine große Rolle, sich selbst ausschließlich als Opfer zu sehen, aber fast gar keine, Verantwortung zu übernehmen für eigene Taten.

Welche Rolle sollte Israel spielen, wenn die Hamas entmachtet ist?
Auch in Israel muss eine Art Deradikalisierungprozess stattfinden, zum Beispiel sollte das Recht der Palästinenser anerkannt werden, sich selbst zu regieren. Darüber hinaus sollte der Wiederaufbau im Gaza-Streifen – mit der Hilfe moderater arabischer Staaten – im Interesse des jüdischen Staates sein. Dies ist auch die Möglichkeit, eine ­Koalition unter anderem gegen die iranische Bedrohung zu bilden. Dafür aber braucht Israel einen politischen Prozess, auch mit den Palästinensern, um den gemeinsamen Konflikt von einem bilateralen auf einen multilateralen zu entschärfen.

Sollten im Westjordanland ebenfalls Anstrengungen unternommen werden, um die Hamas zu besiegen?
Das passiert schon täglich, da die PA die Hamas und weitere militante Gruppen im Westjordanland nicht bekämpft und entwaffnet. Es kommt dort nicht zur totalen Eskalation, weil die IDF einen andauernden Kampf gegen die vorhandene Terrorinfrastruktur führen. Die wichtigste Lektion für Israel seit der »Operation Schutzschild« 2002 (ein umfassender, etwa einmonatiger Militäreinsatz im Westjordanland während der »Zweiten Intifada«; Anm. d. Red.) ist es, den Terror von Anfang an zu bekämpfen. Dies war das Problem im Gaza-Streifen. Nach dem Abzug im Jahr 2005 dachte der jüdische Staat, dass sich dort etwas Positives entwickeln würde, aber man gab der Hamas unbeabsichtigt Handlungsfreiheit. Deshalb werden die IDF im Gaza-Streifen eine ähnliche Politik wie im Westjordanland verfolgen.

»Der Iran ist das größte Problem, denn nicht nur seine Stellvertreter wie die Hizbollah im Libanon oder die Houthis im Jemen sind eine Gefahr für Israel. Neben der Hamas im Gaza-Streifen unterstützt der Iran auch die Terrorinfrastruktur im Westjordanland und hofft auf eine weitere Front gegen den jüdischen Staat.«

Die islamische Welt sieht die Juden als Eindringlinge wie die Kreuzritter und Palästina als Teil seiner Ummah. Welche Rolle spielt die Religion?
Der Koran erzählt von Mohammed und den Juden und davon, dass sie hier lebten. Früher sah die arabische und muslimische Welt Israel als das Hauptproblem der Region. Heute verstehen sie, dass es eher der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ist, und viele arabische Staaten streben mittlerweile ein Bündnis mit dem jüdischen Staat gegen den Iran und seine Stellvertreter an. In der Vergangenheit unterstützten sie die Palästinenser im Kampf gegen Israel. Inzwischen haben Golfstaaten wie Saudi-Arabien erkannt, dass die Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat ihren eigenen Interessen dient. So schien der israelisch-palästinensische Konflikt vergessen, ist jetzt aber wieder in den Mittelpunkt gerückt.

Die Hamas hat auch weiterhin Unterstützer wie Katar und die Türkei.
Ja, das ist ein großes Problem. Einerseits finanzierte Katar die Hamas, ­anderseits ist das Land jetzt der Hauptvermittler bei den Verhandlungen zur Rückführung der Geiseln. Sie treiben ein doppeltes Spiel, aber Israel muss zunächst seine Bürger nach Hause bringen. Danach sollte die Politik gegenüber Katar und auch der Türkei geändert werden.

Und was ist mit dem Iran?
Der Iran ist das größte Problem, denn nicht nur seine Stellvertreter wie die Hizbollah im Libanon oder die Houthis im Jemen sind eine Gefahr für Israel. Neben der Hamas im Gaza-Streifen unterstützt der Iran auch die Terrorinfrastruktur im Westjordanland und hofft auf eine weitere Front gegen den jüdischen Staat. Viele Waffen werden dort über den Irak, Syrien und Jordanien hineingeschmuggelt.

Sehen Sie noch eine Chance für die Zweistaatenlösung?
Aufgrund des Kriegs ist das im Moment nicht relevant, da die meisten Israelis nicht mehr an den Friedensprozess glauben. Aber für die Zukunft – wenn sich die Emotionen beruhigt haben – könnte es eine Option sein, beide Gebiete zu einem unabhängigen Staat zu machen. 80 Prozent der jüdischen Siedler im Westjordanland würden sowieso in Israel bleiben. Die Palästinenser würden im Austausch Land bekommen. 20 Prozent der Siedler müssten dann wegziehen oder vielleicht palästinensische Staatsbürger werden.

»Unser Institut hat vor einiger Zeit eine Untersuchung vorgenommen, die zeigt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der wirtschaftlichen Lage der Palästinenser und ihrem Willen, den jüdischen Staat zu bekämpfen.«

Armut wird oft als Grund für die Unterstützung extremistischer ­Organisationen genannt. Könnte mehr Wohlstand die Palästinenser befrieden?
Israels Erfahrungen sind in dieser Hinsicht nicht positiv, da die ökonomische Situation im Gaza-Streifen vor dem 7. Oktober nahezu die beste seit Jahren war. Eine ähnliche Situation gab es vor der sogenannten Ersten und Zweiten Intifada. Doch die Palästinenser entschieden sich für einen Terrorkrieg gegen die israelische Zivilbevölkerung. Unser Institut hat vor einiger Zeit eine Untersuchung vorgenommen, die zeigt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der wirtschaftlichen Lage der Palästinenser und ihrem Willen, den jüdischen Staat zu bekämpfen. Irrtümlich dachte Israel ­lange, dass Wohlstand im Gaza-Streifen und im Westjordanland gut für seine Sicherheit sei.

Wie kann sichergestellt werden, dass nicht eine andere extremistische Organisation die neue starke Kraft im Gaza-Streifen wird?
Ägypten ist ein Schlüsselfaktor, um den Gaza-Streifen zu befrieden. Als Ägypten die Muslimbruderschaft entmachtete und den »Islamischen Staat« auf der Sinai-Halbinsel bekämpfte, machte Ägypten der Hamas klar, dass sie diese Terrororganisation nicht ­unterstützen sollte, weil man sie sonst ebenfalls zerstören werde. Aufgrund seiner langen Geschichte mit dem Gaza-Streifen und seines Einflusses dort könnte Ägypten die Bildung von neuen extremistischen Gruppen verhindern.

Wie sehen Sie die Zukunft des Gaza-Streifens?
Nach dem Krieg würde sich die Hamas gerne wie die Hizbollah im Libanon etablieren: ihre militärischen Fähigkeiten bewahren, während die PA das ­Leben der Zivilbevölkerung in Gaza verwaltet. Und zwar so lange, bis die ­Hamas sich stark genug fühlt, wieder die Macht zu übernehmen. Um eine ­Zukunft für den Küstenstreifen sicherzustellen, sollte Israel mit der Hilfe der EU, der USA und einer Koalition gemäßigter arabischer Staaten – wie Ägypten und den Golfstaaten – politisch klug und nachhaltig planen, um die Realität dort positiv zu verändern.

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Udi Dekel

Udi Dekel 

Bild:
www.inss.org.il

Udi Dekel ist Brigadegeneral a. D. der Israel Defense Forces (IDF) und war 2008 Leiter der israelischen Verhandlungs­teams beim sogenannten Annapolis-Prozess. An der Annapolis-Konferenz, die diesen Prozess im November des Vorjahrs eingeleitet hatte, hatten Israels Minister­präsident Ehud Olmert, PA-Führer Mahmoud Abbas und US-Präsident George W. Bush teilgenommen. Derzeit ist Dekel Direktor für Konfliktforschung am Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv.