Grand Prix d'Eurovision

Global Players of Pop

Die letzten aufrechten Schlagerländer landeten auf den hinteren Rängen. Die Zukunft des Tralala ist düster.

Zu den ersten Dingen, die ein Musiker mit auch nur minimaler Erfolgsbereitschaft lernen muss, gehört, es sich am großen Abend vor allen Dingen nicht mit dem Mischer zu verderben. Der ist nämlich nicht nur grundsätzlich ein bisschen paranoid und befürchtet bei jedem lauteren Ton durchgebratene Hochtöner und Basslautsprecher, sondern ist auch ein sich schwer unterschätzt fühlendes Wesen. Interpreten oder Bands, die er eklig findet, straft er deshalb gerne mit einem besonders dilettantischen Mix ab.

Beim Grand Prix d'Eurovision wurde zwar vor ein paar Jahren das Live-Orchester mitsamt den herumfuchtelnden Pseudo-Dirigenten abgeschafft, was dazu führte, dass vielen Chansons nun die wohltuende Schräge fehlt. Aber auch beim Halb-Playback kann man sich den großen Auftritt - bei entsprechendem Einsatz vor und hinter dem Mikro - entscheidend versauen.

So gibt es auch beim Grand Prix immer wieder - natürlich nur bei schlecht abschneidenden Teilnehmern - wütende Schuldzuweisungen Richtung Tonmanagement. Beim Grand Prix 2000 in Stockholm traf es nachweislich dann gleich mehrere Starter, wer hierbei mehrheitlich die Schuld trug, intriganter Tonmensch oder untalentierter Liedsänger, ist kaum zu ermitteln. Jedenfalls trieben die karaokischen Einsprengsel der Chorgruppen von Israel, Deutschland und Mazedonien den an sich schon recht hohen Trash-Faktor des beliebtesten Liederabends der Welt noch um einiges höher - für die Startnummer eins, Israels Sa' me' akh, reichte es wohl u.a. deswegen am Ende nur zu gerade mal sechs Punkten.

Der Mixer hatte sich jedenfalls beim nächsten Vortrag, dem niederländischen Opus »No Goodbye«, dessen Interpretin Linda sich zunächst als schwarz-silberner Ballon getarnt hatte, wieder einigermaßen gefangen. Die formvollendete Disco-Schnulze durfte völlig ungestört zu Ende vorgetragen werden.

Nicki French aus Großbritannien trug ihr Lied ebenfalls unfallfrei vor. Obwohl »Once I had a dream!« zu den eigentlich seit mehr als 20 Jahren verbotenen Songanfängen gehört und in diesem Fall sogar noch unüberhörbar mit den branchenüblichen Abba-Anleihen gemischt war.

Das estnische, bleichgrün gewandete Cowgirl Ines zeigte, dass man es im ehemaligen Ostblock auch ganz ohne Revival schafft, der traditionellen Siebziger-Jahre-Ästhetik zu huldigen. Ihr Girl-Pop-Song »Once in a Lifetime« hatte im Vorfeld die Kritiker vor allem dadurch überzeugt, dass einer der Begleitmusiker einst auf der untergegangenen Fähre Estonia ein Gastspiel gegeben hatte.

Sophie aus Frankreich, im traditionellen roten Hosenanzug, trällerte dagegen mit »On aura le Ciel« eines der klassischen französischen Stücke, die DJs in Bars immer dann auflegen, wenn sie genug von den Gästen haben und finden, dass die jetzt nach Hause gehen sollten, statt weiter in ihr Bier zu tränen.

Von solchen Traditionals war man beim rumänischen Starter Taxi, der beliebtesten Band des Landes, weit entfernt. »Luna« lautete der Titel, in dem eine Panflöte zu Beginn kurz Ethno antäuschte, es dann aber mit Cranberries auf männlich weitergehen ließ. Denn auch die Rumänen wollten mal gewinnen, deswegen wurde der Mond englisch angesungen und sich allerhand getraut. Etwa Schweinerock mit Panflöten-Solo zu mischen. Und dabei noch irisch zu klingen.

Aber nicht nur so etwas wird geboten, manche Starter beharrten eigensinnig darauf, Innerliches nach Außen gekehrt zum Besten zu geben. Wie die Malteser Sängerin Claudette Pace. Die Inhaberin einer eigenen Medienagentur singt von »Desire«, aber trotz allem Einsatz sieht sie doch nur aus wie eine Hausfrau auf der Suche nach der großen Leidenschaft. Und nach einem Schicksal, dass die Mädels von Norwegens Charmed noch vor sich haben. »My heart goes« na, was wohl? Ja, richtig, »boom« lautet ihr Soul-Pop-Song, der allzu offensichtlich nach unbedingtem Willen zum schnellen Erfolg klingt.

Und das kann die European Community absolut nicht leiden. Es sei denn, der Wille zum schnellen Erfolg steht nicht auf dicken Beinen. Wie die russische Sängerin Alsou mit den schmalen Fesseln. Die lebt seit einigen Jahren in London. Mit ihrem reichen Papa, der die in Russland erworbenen Öl-Millionen nun in die Karriere der Tochter angelegt hat - aber als russischer Grand-Prix-Beitrag wurde sie selbstverständlich nur auf Grund des musikalischen Talents genommen. »Solo« heißt ihr Song, der bewies, dass ein silbernes Bikini-Oberteil im Zweifel immer besser ankommt als ein aus Windeln hergestelltes Ballkleid, wie es die belgische Nathalie (»Envie de vivre«) trug. Belgien kam am Ende trotz einer mustergültigen Euro-Ballade pur auf nur wenige Erbarmungspunkte.

Zypern trommelte, Island stellte Menschen beiderlei Geschlechts in scheußlichen Röcken zur Schau, Spanien schickte einen blinden Sänger, der schon 1985 versagt hatte, ins Rennen. Der deutsche Metzger Stefan Raab dagegen - ein lustiger Anzug, ein paar halbnackte Sängerinnen und der dümmste aller musikalischen Tricks, der darin besteht, am Ende um einen halben Ton nach oben zu gehen - lockte angesichts solcher Konkurrenz doch noch genügend Deppen im deutschsprachigen Ausland (Österreich / Schweiz / Mallorca) an die Handy-Wahlwiederholungstasten.

Kroatiens Goran besang mit »Wenn die Engel einschlafen« eine zunächst in einem Sack verborgene Pantomimin, während der irische Beitrag »Millennium Of Love«, vorgetragen von einem Andy-Brehme-Klon, es schaffte, in beinahe jeder Textzeile des Schmachtfetzens die Worte »Liebe« und »Jahrtausend« unterzubringen. Ein Jahr zu spät allerdings, deswegen blieb der ganz große Erfolg aus.

Der Schwede Roger Pantare hatte sich dagegen massiv verkalkuliert. »When the Spirits Call My Name« sollte die Welt an die Rechte von Minderheiten erinnern, ein Lappe, eine Eskima, ein Cree sangen mit, aber auch in Schweden denken die einschlägigen Personen, wenn sie das Wort Rechte hören, erst einmal an sich selbst. In Neonazi-Kreisen wurde der Song, ein Status-Quo-artiger Boogie Rock mit Ethno-Intermezzo, zum Entsetzen des Interpreten daher ein großer Hit. Obwohl das Ganze auf der Bühne aussah wie Wrestling-Star trifft Kelly Family.

Nur Dänemark erwies sich als Zielgruppen-orientiert. Dort hatte man einkalkuliert, dass nur wenige Abstimmungsberechtigte unter 50 ihr Sozialleben schon derartig verpfuscht haben, dass sie sich an einem Samstagabend keine andere Zerstreuung als die Grand-Prix-Abstimmung vorstellen können, und schickte zwei mittelalte Herren ins Rennen. Die Olsen-Brothers, in den Sechzigern ausgesprochene Teenie-Stars und heute im Zivilberuf Lehrer bzw. Kulturreferent, besangen mit »Fly On the Wings of Love« die Freuden einer in die Jahre gekommenen Liebe. Und bewiesen, dass alte Säcke nicht nur am besten im schlichten schwarzen Rolli unterm schwarzen Anzug aussehen, sondern auch lernfähig sind: Nur wenige Jahre nach Cher entdecken plötzlich auch sie die Vorzüge des Vocoders.

Das hat Europa nun davon: Da wollte man sich gerade jugendlicher und poppiger denn je präsentieren, und schon erhebt der Altherren-Pop sein ergrautes Haupt. Mit einem Songtitel, den auch Dieter Bohlen nicht ranziger hätte hinbekommen können und der am Ende souverän siegte.

In der Eurotrash-Zone sind die Standardmelodien mittlerweile derart verbreitet, dass immer mehr EU - und beitrittswillige Nationen nur noch als Global Players of Pop den musikalischen Erfolg suchen. Mehr als zwei Drittel aller Beiträge wurde in Englisch gesungen, und davon folgte wiederum die Hälfte den gängigen und meist Erfolg versprechenden Mustern. Das sind entweder die in den Frühneunzigern beim Grand Prix so übermäßig erfolgreichen irischen Folk-Balladen (u.a. Irland, Finnland, Rumänien, Lettland) oder schlecht angesoulter Pop ˆ la Spice Girls, Britney Spears und Co. (Österreich, Norwegen, Estland, Russland usw.).

Die letzten aufrechten Schlagerländer (Frankreich, Spanien, Belgien) landeten auf den hinteren Rängen. Und weil die Grand-Prix-Beiträge in diesem Jahr erstmals alle auf CD gepresst werden, kann nun jeder potenzielle Starter bequem zu Hause analysieren, was viele Punkte verspricht und was nicht. Um im nächsten Jahr noch stärker zur popmusikalischen Mitte zu streben. Und sehr, sehr nett zum Mischer zu sein.