Ein Jahr neuer Chef beim 'Neuen Deutschland'

Die Juni-Revolution

Das Neue Deutschland geht online. Aber weiter nicht. Seit einem Jahr hat das Ostblatt einen Wessi-Chef.

Womöglich ist das Neue Deutschland eines der größten Fanzines der Welt. Unbeeindruckt von den Turbulenzen des Pressemarkts wird hier eine Zeitung produziert, die vor allem der Redaktion selbst gefällt. Und den rund 65 000 Abonnenten natürlich. Hier, das ist Alt-Stralau, an der Peripherie der Stadt, wo nichts zu spüren ist von den Vibrationen des Medienstandorts Berlin. Alle paar Minuten zittert das Redaktionsgebäude ein bisschen, dann fährt gerade eine S-Bahn vorbei.

Andererseits fühlt sich auch niemand vom ND ernsthaft gestört. Als der Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion, Jürgen Reents, das Sprachrohr der PDS vor rund einem Jahr übernahm, sollte sich das jedoch ändern, das Partei-eigene Blatt werde zukünftig eine »anstößige und anstoßende Zeitung« sein, prognostizierte der neue Chefredakteur. Und natürlich noch »aktueller, frecher, kritischer«, als die Leser das eh schon von ihrem ND gewohnt waren.

Redaktionskonferenz, 11 Uhr, der Chef vom Dienst verteilt die Anzeigen, wer nimmt was, wo ist noch Platz? Viel gibt es nicht zu verteilen, und auch die Themenvorstellung wird ruckzuck über die Bühne gebracht. Es geht zu wie auf einer ordentlichen Verwaltungssitzung. Konzession an den Zeitgeist: Kulturchef Peter Berger schlägt vor, was zu »Big Brother« zu machen, aber dann haben doch die Pläne des neuen Kultursenators Christoph Stölz Priorität.

Im Büro von Jürgen Reents läuft der Fernseher, gerade spricht Gysi im Bundestag. Natürlich, sagt Reents, werde bei den Konferenzen auch gestritten, nicht immer sei man sich so einig wie an diesem Morgen, erst kürzlich sorgte der PDS-Parteitag in Münster für Stress, Debatten und stoßweise Leserpost. Der West-Chef, der zu den Gründungsmitgliedern der Grünen gehört und später zur PDS ging, hat sich beim ND mittlerweile eingelebt und den internen Kampf um die Blattlinie beruhigt. Dass die Ostzeitung zu einem Westblatt umgemodelt werde, befürchtet in der Redaktion niemand mehr. Die Westausdehnung ist kein Thema. Reents' Konzept für das Ex-Kampfblatt der Arbeiterklasse setzt ganz auf das Ostklientel. »Unsere Leser wollen nicht nur wissen, was in Afghanistan los ist, sondern haben ein ebenso starkes Bedürfnis nach regionaler Berichterstattung.« Wie die Süddeutsche und die Frankfurter Rundschau in ihren Stammregionen verkaufe sich auch das ND am besten in der Region, 30 Prozent machen Berlin und Umland aus. »Ich glaube, dass hier unsere Zukunft liegt.«

Das Stichwort heißt »regionale Verankerung«. Das Blatt soll sich in die Richtung Hauptstadtzeitung entwickeln. Obwohl Reents den Begriff »Hauptstadtzeitung« ein bisschen albern findet. Und auf das Neue Deutschland lässt er sich sowieso kaum anwenden, denn das Berliner Leben tobt anderswo. Kinoprogramm und Veranstaltungstipps sollen aber zukünftig eine größere Rolle spielen. Service heißt unter Linken Gebrauchswert. Sportredakteur Michael Müller lobt bei der Zeitungskritik die Themensetzung. Z.B. einen Bericht über das Berliner 1 000-Dächer-Programm. Damit könne der Leser doch mal was anfangen.

Nicht aber Hans-Dieter Schütt, Feuilleton-Redakteur und zuständig für Theater und Debatte. Schütt dreht und wendet das Blatt, schlägt es auf und wieder zu und fragt sich, wo man denn bloß anfangen soll mit dem Lesen. Alles sieht gleich aus, und immer nur Berichte. »Der Bericht ist immer noch die bevorzugte Form. Was fehlt, ist eine gewisse Genrevielfalt.« Als sich das ND endlich entschlossen hatte, das publizistische Regelwerk der bürgerlichen Presse zu übernehmen und die Trennung von Bericht und Kommentar zu praktizieren begann, waren diese Standards schon gar nicht mehr gültig. Die linke Ostzeitung meidet die subjektiven Spielformen und kommt deshalb so amtlich daher wie eh und je. Man ist formkonservativ, das hat mit politischen Traditionen zu tun, mit der Leserschaft, aber auch mit der Ökonomie, ein mutiges Relaunch nach dem anderen kann sich der Verlag gar nicht leisten, und das, was man sich leisten könnte, traut man sich nicht zu tun.

Andere sind da weniger zaghaft, die Traditionsbrüche finden nicht bei den linken Blättern statt, sondern bei den etablierten, insbesondere in der Konservatismus-Hochburg FAZ, die auf den experimentell veranlagten »Berliner Seiten« Prenzlauer Berg-Szene, Kapitalismuskritik, Subkultur und Neue Mitte amalgamiert. Irritierende Headlines, die Erzählung als bevorzugte Form zumindest im Feuilleton gehören mittlerweile selbst im biederen Tagesspiegel oder in der Welt zum Üblichen. Verkehrte Welt. Die bürgerlichen Zeitungen geben sich postmodern und aufgeschlossen, die »Große unter den Linken« hält an Altbewährtem fest.

Dennoch will man auch beim ND immer mal was Neues wagen, mehr lockere Themen, die auch die Jüngeren ansprechen. »Wieso nicht einmal eine Reportage über Bruce Springsteen«, sagt Reents. Aber klar, stimmt, auch der sei ja schon bisschen alt. Und damit geht es ja schon mal los, es fehlen die Redakteure, die sich mit diesen Themen auskennen. Oder Comics. Auf dem Tisch liegen schüchtern einige Vorlagen. Vielleicht kommen sie einmal ins Blatt. Noch sei nichts entschieden. Die Redaktion denkt nach.

Und sie denkt an den Leser.

Der ist in diesem Fall der monogame Typ. Er steht fest zur PDS, bezieht nur deren Zeitung, ist anhänglich, aber verlangt dafür im Gegenzug auch eine politisch-psychologische Rundum-Betreuung. Gerade in der jüngsten PDS-Debatte, sagt Reents, sei das ND auch als Kummerkasten benutzt worden, von Leuten, die diese Entwicklung der Erneuerung nicht mitmachen wollen oder können. Kommt es doch zur Trennung zwischen ND und Leser, sind die Gründe zumeist dramatisch. a) Der Leser bezichtigt das Blatt des Reformismus. b) Der Leser klagt den Reformismus ein. c) Der Leser ist verstorben. Immerhin sind 35 bis 40 Prozent der Leserschaft über 60. Für Verlag und Redaktion ein klassisches Doublebind: Man will und muss was anders machen, befürchtet aber, die jetzige Leserschaft mit Neuerungen zu überfordern. Unterlässt man sie, verspielt man die Zukunft.

Deshalb ist beim ND eher von mikroskopischen Neuerungen die Rede. »Wir versuchen schrittweise Veränderungen«, sagt Reents und gibt zu, dass die für Außenstehende nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar sind. »Du kannst eine Revolution versuchen, aber eine Revolution kann scheitern, und das ist böse bei einer Zeitung.« Schließlich könne man »die Leserschaft nicht austauschen«. Auch wenn man »neue Leserschichten erreichen wolle, müssen wir trotzdem die jetztigen Abonnenten halten«. Das ND hängt an seinen Lesern, und umgekehrt. Und die Abhängigkeit ist groß, denn Anzeigen gibt es kaum.

Die Revolution hat zwar bereits stattgefunden, auch ohne die sozialistische Tageszeitung, aber jetzt hat man sich auch hier zum Mitmachen entschlossen: Das ND geht online. Die alte Chefredaktion unter Reiner Oschmann habe man vergeblich mit Eingaben bombardiert, sagt Jörg Staude, Ressortleiter Wirtschaft und Soziales, da habe sich nichts bewegt. Mit dem Wessi kommt jetzt die Technik. Allerdings hat selbst der ein Jahr gebraucht, das Blatt auch nur in die Nähe des Netzes zu bringen. Das Kampfziel lautet: Anschluss im Juni.

Dass die Zeit gegen das Blatt arbeite, weil die Leser wegsterben, kann Staude nicht mehr hören. Diese Prognose habe es schon vor zehn Jahren gegeben, sagt er und verweist auf die stabilen Abonnenten-Zahlen. »Die Leute sterben nicht mehr so schnell.«