Treibende und Getriebene

Immer wieder ist das thüringische Landesamt für Verfassungsschutz in die Schlagzeilen gekommen. ine Skandalchronik

Sechs Jahre war er im Amt, nun muss er aussetzen: Helmut Roewer, der bisherige Präsident des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVS). Eine ganze Reihe von »Pannen, Indiskretionen und internen Auseinandersetzungen«, die schon viel zu lang geworden sei, nahm Thüringens Innenminister Christian Köckert letzte Woche zum Anlass, Roewer zu suspendieren - vorläufig. Der Einsatz des Neonazis Thomas Dienel sei dabei nicht die Ursache, sondern nur der Anlass der Suspendierung bis zur Klärung aller Vorwürfe.

Helmut Roewer war vor sechs Jahren vom Bundesministerium des Innern (BMI), Abteilung Verfassungsschutz, nach Thüringen gekommen, um den damaligen Präsidenten Harm Winkler abzulösen. Der galt in den Augen des von der CDU geführten Innenministeriums als zu liberal und stand den Bemühungen, Seilschaften im Verfassungsschutz zu etablieren, offensichtlich im Weg.

In diesen sechs Jahren fiel Roewer vor allem durch seine Verharmlosung des Nazismus in Gegenwart und Vergangenheit auf. Vor fast einem Jahr erläuterte der VS-Chef »Kennzeichen D« sein Geschichtsbild: »Das Dritte Reich ist eine bestimmte Epoche in der deutschen Geschichte, und diese besteht nicht nur aus Verbrechen. Wenn Sie den jungen Leuten erklären, es seien nur Verbrechen gewesen, dann glauben sie das nicht, weil sie dann in einen Großvater-Enkel-Konflikt kommen.«

Ein halbes Jahr zuvor war er bei einer Podiumsdiskussion noch deutlicher geworden: »Sie sollten mal fragen, was sich für die meisten Menschen mit dem Dritten Reich noch verbindet. (...) Eine richtige Schlussfolgerung kann ein ganz normaler Mensch nur dann ziehen, wenn man ihm gesagt hat, was passiert ist, und zwar die schlechten und die guten Seiten.« Die bei der Veranstaltung anwesenden Mitglieder der NPD und des rechtsmilitanten Thüringer Heimatschutzes waren begeistert.

Hinzu kamen immer wieder Versuche, Antifaschisten und Antirassisten, Vertreter der Linken und der Gewerkschaften zu diskreditieren. So bezeichnete Roewer in einem Fachreferat vor Kollegen Faschisten und Antifaschisten als »siamesische Zwillinge« und als »zwei Seiten einer Medaille«. Sein Ziel war es stets, größere antifaschistische Bündnisse zu verhindern.

So wurde 1997 eine geplante Großdemonstration gegen den rechten Konsens in Saalfeld vom Innenministerium verboten, als sich herausgestellt hatte, dass sich ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, PDS, Grünen und Autonomen weder durch Integrationsangebote noch durch Drohungen und Kampagnen spalten ließ.

Auch nach Saalfeld setzte Roewer alles daran, größere Bündnisse gegen Rechts zu verhindern. Als wichtigstes Instrument für diese Strategie dürfte der Nachrichtendienst, eine regelmäßige Publikation des VS, zählen. Im März 1998 gelangte ein Auszug aus einem dieser Berichte, die das LfVS monatlich an Behörden und Einzelpersonen verschickt, an die Öffentlichkeit.

In diesem Auszug wurde über eine Demonstration zur Unterstützung der Rechte von Flüchtlingen berichtet, bei der die stellvertretende DGB-Landesvorsitzende und ein evangelischer Propst Ansprachen gehalten hatten. Die Anmelderin der Demonstration, eine Mitarbeiterin des DGB-Bildungswerks Thüringen, wurde mit Namen und Arbeitsstelle genannt. Gegenüber der Landesdatenschutzbeauftragten legitimierte das Amt den Bericht mit der Teilnahme von Autonomen an der Demo.

Zum Adressatenkreis des Nachrichtendienstes zählen Versammlungsbehörden, Bürgermeister, Polizeidienststellen, ausgewählte Medienvertreter und Personen des öffentlichen Lebens. Gewarnt wird vor den »Feinden der Demokratie»: Atomkraft- und Kriegsgegnern, Antifas, Flüchtlingen, kritischen Journalisten; selbst Landtagsabgeordnete der PDS und Gewerkschaftsfunktionäre wurden schon genannt.

Berichte über Rechtsextremismus hingegen sind beschränkt: Erwähnt werden größtenteils die Parteien, Skin-Musik und die so genannten Freien Kameradschaften. Übergänge zur konservativen Rechten, wie es sie in vielen Burschenschaften gibt, fanden erst Eingang nach antifaschistischen Recherchen und kritischen Medienberichten.

Kritik kam aber verstärkt auch von anderer Seite. In den letzten beiden Jahren haben sich in Thüringen Aufmärsche der extremen Rechten gehäuft, in vielen Fällen schätzten die jeweiligen Polizeiführungen die Zahl der Teilnehmer falsch ein. In ungewohnter Offenheit machten immer wieder hohe Polizeibeamte ihrem Unmut über die fehlenden oder falschen Einschätzungen des LfVS Luft. Besonders lächerlich wirkte schließlich am 20. April eine Erklärung des Innenministeriums - die wohl auf Erkenntnisse des LfVS zurückging -, der Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge könne auch von linken Tätern verübt worden sein.

Zu diesem Zeitpunkt passte zwischen Roewer und Innenminister Köckert noch kein Blatt: Ein VS-Mitarbeiter, der im Sommer 1999 von seinem Posten als »Referatsleiter Rechtsextremismus« beurlaubt worden war, setzte sich gegen den Rausschmiss zur Wehr. Im Machtkampf zwischen Roewer und dem Beurlaubten unterlag der Mitarbeiter in diesem Jahr. Roewer hatte, so Köckert, unter ihm »freie Hand und sein volles Vertrauen«.

Noch am 30. Mai stellten beide in Jena einen Film über Extremismus in Thüringen vor. Als Beispiel für Rechtsextremismus wird die NPD, für Linksextremismus die Junge Gemeinde (JG) Jena, eine vom Stadtjugendpfarrer Lothar König geleitete Einrichtung der evangelischen Kirche, die sich strikt gegen Neonazis positioniert hat und deswegen mehrfach von ihnen überfallen wurde, genannt. Vor einem Straßentheaterstück der JG, das die Gefährlichkeit von Neonazis darstellt, hatte der Verfassungsschutz bereits 1998 gewarnt.

Nach der Suspendierung Roewers fordern nun Politiker von PDS und Bündnis 90/Die Grünen die Abschaffung des Geheimdienstes und stellen die Frage, ob der Einsatz von V-Männern in der Neonazi-Szene durch den Verfassungsschutz nicht zu einer Unterstützung der extremen Rechten führt.

In der Tat ist die Liste staatlicher Spitzel mit ausgeprägtem Rechtsdrall in der Neonazi-Szene lang. Ende der siebziger Jahre bastelte der V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes Hans Dieter Lepzien, Mitglied der NSDAP/AO, selbst Bomben für Attentate einer in Niedersachsen agierenden Gruppe. Norbert Schnelle, zunächst Mitglied der Jungen Nationaldemokraten und später der Nationalistischen Front, war in den Achtzigern V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes. Er war an mehreren Straftaten beteiligt und warnte seine Kameraden vor Hausdurchsuchungen.

In Witten stellte sich 1988 Andreas Szypa von der Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) mit Wissen von zwei Parteifunktionären dem LfVS als V-Mann zur Verfügung - nicht ohne vorher die Hälfte seiner Honorare der Partei zu garantieren. Bernd Schmitt, V-Mann in NRW, baute Anfang der Neunziger in Solingen die Kampfsportschule Hakpao auf, in der auch die Attentäter von Solingen verkehrten und organiserte den Saalschutz für eine rechtsextreme Partei.

Im November 1999 enttarnte sich Michael Grube aus Grevesmühlen als V-Mann des VS Mecklenburg-Vorpommern. Wie Thomas Dienel war auch er vorher einschlägig bekannt. Im Auftrag des VS hatte er sich zum Kreisvorsitzenden der NPD wählen lassen. 1998 organisierte er einen Wahlkampfauftritt Manfred Roeders in Updahl, bei dem der frühere Rechtsterrorist den Holocaust leugnete. Im März 1999 beteiligte sich Grube an der Planung und Durchführung eines Brandanschlags.