Dragoljub Stojanov

»Bosnien braucht ein richtiges Protektorat«

Ein Jahr nach dem Einzug von Nato, Uno und OSZE in das Kosovo ist weiterhin unklar, wie lange die internationalen Organisationen in der Provinz verbleiben werden. Nach den Erfahrungen in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina gehen selbst Optimisten von mindestens zehn Jahren aus. Denn dort besteht die mit dem Dayton-Vertrag eingeführte internationale Verwaltung bereits seit 1995 - ohne dass ein Ende der Fremdherrschaft in Sicht wäre. Den ökonomischen Transformationsprozess in Bosnien seit Ende des Krieges kennt Dragoljub Stojanov aus eigener Erfahrung. Er war von 1993 an Minister in zwei bosnischen Regierungen. Heute leitet er den Lehrstuhl für Internationale Wirtschafts- und Finanzbeziehungen an der Universität Sarajevo.

1995 gingen die westlichen Garantiemächte des Dayton-Vertrags davon aus, dass die Teilung Bosniens in eine muslimisch-kroatische Föderation und die serbische Republika Srpska nur durch Einführung des freien Marktes überwunden werden könnte.

Schon damals habe ich gesagt, dass das nicht möglich ist: Kein Land auf der Welt hat sich jemals allein auf der Basis des freien Marktes entwickelt - und auch in Bosnien-Herzegowina wird die politische und ökonomische Reintegration auf diese Weise nicht zu bewerkstelligen sein. Um ein normales Funktionieren des Marktes zu gewährleisten, müssen erst einmal die anderen institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Doch diese Institutionen gibt es in Bosnien heute weiterhin nur auf dem Papier.

Mit der Privatisierung von gesellschaftlichen bzw. staatlichen Produktionsmitteln ist in allen ost- und südosteuropäischen Transformationsländern versucht worden, den Weg in die Marktwirtschaft zu ebnen. Wie beurteilen Sie diese Versuche für Bosnien-Herzegowina?

Diese Transformation ist einer der größten Diebstähle der 20. Jahrhunderts. Der erste große Fehler wurde bereits gemacht, als das gesellschaftliche Eigentum über die Produktionsmittel durch ein staatliches ersetzt wurde. Der zweite, weitaus größere Fehler jedoch war, dass die Privatisierung nach ethnischen - und nicht nach ökonomischen - Kriterien durchgeführt wurde. So konnte das staatliche Vermögen zunächst in private Hände und dann auf private Konten im Ausland gelangen.

Welchen Anteil an diesem Prozess hatte die so genannte internationale Gemeinschaft?

Die internationalen Verwalter Bosniens wissen genau, dass bei uns eine ethnische Privatisierung stattfindet, die mit vernünftigen ökonomischen Kriterien nichts zu tun hat. Wir haben sie immer wieder darauf hingewiesen - und trotzdem schauen sie weg. Das ist schon ein sehr merkwürdiges Verhalten, sich an derart imaginäre Prinzipien zu klammern.

Warum?

Es ist eigentlich mehr als lächerlich, für Bosnien eine Entwicklungs-Strategie zu propagieren, die auf der Basis von Exporten beruht. In unserem Land wird heute kaum etwas produziert. Das Produktionsniveau liegt bei dreißig Prozent dessen, was vor dem Krieg produziert wurde.

Was ist denn Ihr Konzept?

Bereits 1997 haben Wissenschaftler eines von mir geleiteten Projekts für ein Produktions- und Beschäftigungswachstum plädiert, das stufenweise erreicht wird. Begleitet werden sollte dieser Prozess von einer langsamen und vorsichtigen Liberalisierung. Im Grunde geht dieses Konzept von der Grundlage aus, auf der sich auch die westlichen Industrieländer entwickelt haben - und nicht von dieser sinnlosen Schocktherapie, die westliche Berater nach 1989/90 allen Transformationsländern empfohlen haben. Ich wusste aber von Beginn an, dass die von uns entwickelte Strategie wenig Chancen auf Umsetzung haben würde.

Weil seitens der internationalen Institutionen der Wille dazu fehlte - oder aus anderen Gründen?

Wenn man sieht, wie oft die neoliberalen Theoretiker die Transformationsländer in den letzten zehn Jahren falsch beraten haben, kann man kaum noch glauben, dass es sich dabei wirklich nur um Fehler gehandelt hat.

Welche Fehler meinen Sie?

Ich denke da etwa an einen Vorschlag an die russische Regierung von 1990, der vorsah, innerhalb von 500 Tagen eine funktionierende Marktwirtschaft zu etablieren. Der berühmte US-Ökonom Jeffrey Sachs, der diese Idee anfangs unterstützte, räumte später ein, dass Russland dafür mindestens 5000 Tage benötige - ein diametraler Meinungswandel. Heute ist Sachs einer der größten Gegner der Politik des Internationalen Währungsfonds gegenüber den Transformationsländern.

Wie schätzen Sie die Rolle des IWF in Bosnien-Herzegowina ein?

Das ist schwer zu sagen, weil der Staat bei uns nicht einmal annähernd so funktioniert wie in anderen osteuropäischen Transformationsländern. Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, würde ich die Arbeit des IWF wahrscheinlich negativ bewerten. Aber in der jetzigen Situation, wo Bosnien ein nach ethnischen Prinzipien geteilter, nicht funktionierender und zudem noch von internationalen Organisationen verwalteter Staat ist, ist das nicht so einfach: Die Finanzierung des festen Wechselkurses zwischen der bosnischen Währung Konvertibilna Marka und der D-Mark jedenfalls war absolut notwendig. Wenn der Kurs nicht im Verhältnis eins zu eins gehalten worden wäre, würden unsere Politiker heute grenzenlos Geld drucken.

Das heißt, der IWF hat stabilisierende Wirkung auf das Land?

Nein, so kann man das auch nicht sehen. Denn durch die Bindung an die D-Mark sind wir natürlich völlig vom Westen abhängig. Darüber hinaus hat das konservative Dogma, wonach der freie Markt und ausländisches Kapital die einzigen Determinanten für Prosperität seien, nicht nur bei uns dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit und das soziale Elend weiter gewachsen sind.

Die klassische ökonomische Theorie behauptet doch, dass ein Land, das kein eigenes Kapital besitzt, diesen Mangel nur durch ausländische Investitionen beheben kann. Wollen Sie sagen, dass Bosnien das ausländische Kapital nicht braucht?

Im Gegenteil. Das fremde Produktionskapital ist sogar sehr willkommen. Doch ist das nicht das Schlüsselproblem: Damit der freie Markt überhaupt funktionieren könnte, müssten erst einmal die politischen wie ökonomischen Institutionen etabliert sein. In Bosnien aber gibt es bis heute nichts davon.

Der zweite Fehler der Marktradikalen ist, dass sie die die volle Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital unterstellen, obwohl sie wissen, dass diese nur in eine Richtung laufen: aus Bosnien-Herzegowina heraus. Mit den jungen Leuten, die heute überall arbeiten, nur nicht in Bosnien, verlässt auch das Geld das Land - und landet irgendwo im Ausland auf privaten Konten. So weiß man weder, wann wie viel Kapital ins Land kommt, noch, welche Mengen Bosnien verlassen. Ich frage mich, wie eine Entwicklungsstrategie auf solch unsicheren Faktoren basieren kann?

Kann es sein, dass die so genannte internationale Gemeinschaft gar kein Interesse an einer Stabilisierung Bosniens hat?

Wahrscheinlich. Denn wenn ihr wirklich an Prosperität gelegen wäre, müsste sie ein richtiges Protektorat einführen - und den jetzt bestehenden Halbprotektorats-Zustand aufheben. In diesem Fall müssten die internationalen Verwalter aber auch die volle Verantwortung für die ökonomische Entwicklung des Landes übernehmen - aber das wollen sie offensichtlich nicht. Für eine selbsttragende Entwicklung des Landes jedenfalls will die internationale Gemeinschaft nichts tun.