Literatur-Streit in Frankreich

Camus' braune Pest

Ist er nur ein elitärer Kulturkonservativer? Oder doch ein antisemitischer Autor? Frankreich diskutiert den Fall Renaud Camus.

Darf man alles schreiben, weil die Meinungsfreiheit ein unantastbares Gut darstellt - oder hört sie dort auf, wo die Barbarei sich zu wiederholen droht? Diese Frage wirft die aktuelle Kontroverse um das Buch des französischen Schriftstellers Renaud Camus auf, das am 21. April dieses Jahres durch seinen Verleger aus dem Verkehr gezogen wurde.

Was wird Camus vorgeworfen? Dass er ein Nazi oder ein rechtsextremer Schriftsteller sei, wird von kaum jemandem behauptet. Camus ist ein betont elitärer, dem Ich-Kult verfallener Autor, der eine reaktionäre Pose einnimmt. 1992 hat er sich - aus Abneigung gegen die Großstädte und vor allem gegen Paris - auf ein Schloss im südwestfranzösischen Bezirk Gers zurückgezogen. Camus hat in den letzten 25 Jahren rund vierzig Werke verfasst, dennoch war der heute 54jährige bisher nur einem kleinen Publikum bekannt - er selbst spricht von 3 000 Lesern.

Vergleichbar ist seine Haltung mit der Suche nach dem aristokratischen Ideal eines heroischen, die »Masse« überragenden Individuums, die etwa Ernst Jünger in der Zwischenkriegszeit dazu brachte, die NSDAP zunächst abzulehnen, da er in ihr eine plebejische, vulgäre Massenbewegung erkannt haben wollte. Camus versteht sich als Teil der kulturellen Elite, die zur Hüterin des - vom Niedergang bedrohten - zivilisatorischen Erbes berufen sei.

Zugleich hat sich Camus, der sich zu seiner Homosexualität bekennt, aber auch immer wieder für eine tabufreie Darstellung homosexueller Praktiken in der Literatur eingesetzt. Sein Buch »Tricks« von 1979 wurde zum Pionierwerk.

Der aktuelle Skandal um Camus hat eine Vorgeschichte, die ins Jahr 1994 zurückreicht. Damals fühlte sich Camus von Journalisten der Radiosendung »Panorama«, wo kulturelle Themen kontrovers diskutiert wurden, brüskiert, da seine Bücher, wie er meinte, nicht gebührend berücksichtigt worden seien. Schließlich wurde ihm auch noch nachgesagt, er habe Ambitionen, in die »Panorama»-Redaktion aufgenommen zu werden - Fehlanzeige.

Enttäuscht griff Camus auf die Herkunft als kulturelles Distinktions-Merkmal zurück, auch wenn er immer wieder versichert hat, dass ihm die Abstammung ansonsten nicht viel bedeute. All das zählte jetzt nicht mehr: Der in seinem Ego verletzte Autor erklärte sich seinem Tagebuch. Dort werden die Namen von Journalisten aufgelistet, die Juden seien oder zumindest jüdische Vorfahren hätten; auch ihr Anteil an der jeweiligen Besetzung der »Panorama»-Belegschaft wurde notiert.

Nein, auf vulgäre Rache sann der Elite-Denker Camus nicht. Aber angemerkt werden müsse doch: »Das jüdische Denken ist sicherlich im Allgemeinen durch und durch spannend; aber es steht nicht im Mittelpunkt der französischen Kultur. Oder vielleicht doch? Ein Zweifel erfasst mich.« Denn schließlich spüre er eine leidenschaftliche Liebe »für die Erfahrung, wie sie seit 15 Jahrhunderten durch das französische Volk auf dem Boden Frankreichs erlebt wurde, und für die Kultur und Zivilisation, die daraus resultiert. Und, folgerichtig, regt es mich auf und macht mich traurig, dass die Sprecher und Vermittler dieser Kultur und Zivilisation in der Mehrheit Juden sind - oft Franzosen der ersten oder zweiten (Einwanderer-) Generation, die nicht direkt an dieser Erfahrung teilhaben.«

Camus hindert das nicht, an anderer Stelle die jüdische Kultur zu bewundern und zu erklären, er sei kein Antisemit und verabscheue Verfolgungsmaßnahmen. Nach dem Bekanntwerden dieser Zitate, die erstmals durch das linke Kulturmagazin Les Inrockuptibles einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt wurden, folgte ein Strafverfahren, das auf die Initiative der Verantwortlichen der Kulturabteilung von Radio France, Laure Adler, und des Chefs des Senders, Jean-Marie Cavada, zu Stande kam.

Als auch noch Frankreichs Kulturministerin Catherine Tasca die Radio France-Mitarbeiter ihrer Unterstützung versicherte und der Fachbereich Französisch der US-Universität Yale eine Einladung an Camus stornierte, zog das Verlagshaus Fayard Camus' Tagebuch des Jahres 1994, das unter dem Titel »La Campagne de France« erschienen war, am 21. April aus dem Handel zurück. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man auch, dass Camus' langjähriger Verleger POL (Paul Otchakovksi-Laurens) - der Herausgeber der anderen neun Bände des Tagebuchs - den Band wegen der antisemitischen Passagen abgelehnt hatte.

Gute drei Wochen später wurde eine Petition zur Unterstützung von Renaud Camus publik, die von dem Maler Jean-Paul Marcheschi initiiert worden war und die Unterschrift von rund 100 Künstlern und Akademikern trägt - darunter Pierre Bergé, Emmanuel Carrère, Frédéric Mitterrand und Dominique Noguez. Sie beklagen ein »Klima der Gewalt« und stellen fest: »Dem Autor ist es heute unmöglich, sich zu verteidigen, während der Rückzug seines Buches den Lesern die Freiheit nimmt, selbst zu urteilen.«

Die 100 Unterzeichner konnten sich jedoch nicht darauf einigen, ob der Text sich auf eine Verteidigung von Camus' Publikationsfreiheit beschränken sollte oder ob auch eine Distanzierung vom Inhalt seines Buches angestrebt sei. Der Konflikt konnte nicht gelöst werden, man einigte sich schließlich auf die vage Formulierung: »unbeachtet unserer eventuellen Vorbehalte bezüglich der Passagen, die ihm (Camus) vorgeworfen werden«.

Einige der ursprünglich vorgesehenen Unterzeichner leisteten ihre Unterschrift daher erst gar nicht, darunter der linksliberale und antitotalitäre Philosoph Alain Finkielkraut. Er veröffentlichte einen eigenen Debattenbeitrag in Le Monde, in dem er den Text Camus' zwar kritisiert, hauptsächlich aber dessen Gegner angriff. Er hätte, schrieb Finkielkraut, »die allgemeine Empörung geteilt, wenn ich meine Zeitgenossen weniger hysterisch gegen die braune Pest losziehen gesehen hätte«.

Eine Gegen-Petition ließ nicht lange auf sich warten, sie erschien eine Woche später unter dem Titel »Erklärung der Zu-zahlreichen-Gäste-des-abstammungsreinen-Frankreich«. Zu den 30 Unterzeichnern gehören der Philosoph Jacques Derrida, der Verfolger von NS-Verbrechern Serge Klarsfeld und der Filmemacher Claude Lanzmann (»Shoah«). Sie beziehen sich direkt auf eindeutige Zitate von Camus (»Die Gäste waren zu zahlreich. Vielleicht auch waren sie zu lange geblieben«) und erklären: »Wer solches denkt, schreibt und veröffentlicht - dass es hier zu viele 'Andere' und dort zu viele Juden gebe -, schreibt und veröffentlicht kriminelle, rassistische und antisemitische Ansichten. Sie unterliegen nicht dem Recht auf freie Meinungsäußerung.«

In einem Beitrag für Le Monde schrieb Isabelle Rabineau - eine der von Camus im Tagebuch Genannten -, sie stehe nun auf der Liste, so wie ihr Vater in den frühen vierziger Jahren auf der Liste gestanden habe.

Noch vor der Sommerpause dieses Jahres, so hat das Verlagshaus Fayard angekündigt, werde Camus' Werk in einer neuen Version erscheinen. Ein Anwalt habe es überprüft, und »juristisch beanstandbare« Stellen seien gestrichen worden.

Der Verlag hat es sich damit so leicht wie möglich gemacht. Camus jedenfalls darf hoffen, diesmal mehr als nur 3 000 Leser zu finden.