Defensiv nach vorn

Italiens Trainer Dino Zoff scherte sich einen Stiefel um den Offensiv-Fußball der anderen Teams. Stattdessen setzte er auf eine spielende Abwehr.

In einem Punkt waren sich alle EM-Kommentatoren einig: Die Zeit des erfolgreichen, aber ach so unattraktiven Defensivfußballs sei vorbei, meinten die Rétys und Kerners, die Rubenbauers und Beckmänner schon in der Vorrunde. Selbst Günter Netzer wollte da nicht widersprechen.

Doch die spieltaktisch das Turnier prägende Mannschaft war der Finalist Italien - mit einer modernen, effektiven und durchaus nicht unansehnlichen Form des hierzulande so gerne als Mauertaktik geschmähten Catenaccio. Wörtlich übersetzt heißt das: Sperrkette oder Riegel.

Was bei dieser Europameisterschaft an unansehnlichem Gekicke zu Grabe getragen wurde, war lediglich der systemlose Defensivfußball Ribbeckscher Prägung, wobei schon der Begriff »Prägung« ein Euphemismus ist. Neben dem DFB-Team scheiterten allerdings auch Norwegen, Schweden und mit sehr großen Abstrichen England an dieser Strategie.

Der so genannte italienische Catenaccio, der bei der EM in Belgien und den Niederlanden zu sehen war, wurde geprägt vom eigentlichen Star dieser EM: Allessandro Nesta von Lazio Rom. Nesta stellt die Inkarnation modernen Abwehrspiels dar.

In der Zerstörung des gegnerischen Systems sehr versiert, voll technischer Brillanz, und dazu noch in der Lage, ein Spiel mit langen und genauen Pässen zu öffnen, bietet Nesta dem Beobachter eine gelungene Mischung aus Qualitäten, die hierzulande zu ihrer Zeit Hans-Georg Schwarzenbeck und Franz Beckenbauer verkörperten; eine Katsche-Kaiser-Kombination quasi.

Darüber hinaus zeichnet sich Nesta als Organisator des gesamten italienischen Spiels aus. Im Grunde hatte er während der EM die Rolle inne, die im deutschen Spiel von Lothar Matthäus erwartet wurde.

Nicht nur deshalb drängt sich ein Vergleich zwischen dem italienischen Erfolgsteam und der deutschen Mannschaft geradezu auf: Sowohl die Elf von Dino Zoff als auch die von Erich Ribbeck setzten bei der EM auf eine defensive Spieltaktik. Außerdem verzichteten beide auf die Aufstellung eines nominellen Spielmachers im Mittelfeld.

Der ob seiner guten Manieren und mehr noch wegen seiner grauen Haare als »Sir Erich« titulierte Ribbeck, dem in seiner Zeit als Trainer beim deutschen Rekordmeister Bayern München vom damaligen Führungsspieler und niederländischen Nationalkicker Jan Wouters bescheinigt wurde, der einzige im Verein zu sein, der definitiv von Fußballtaktik keine Ahnung habe, vertraute bei dieser EM lediglich auf das, was von deutschen Fußballexperten gerne als deutsche Tugenden bezeichnet wird: Rennen, Kämpfen, Grätschen.

Das fußballerische Debakel der deutschen Mannschaft ist nicht zuletzt darin begründet, dass moderne taktische Erwägungen bei Ribbeck keinen Platz hatten. »Ob mit Dreierkette oder mit Viererkette«, faselte er, »ist doch völlig egal. Entscheidend ist doch nur, dass wir gewinnen.«

Christian Ziege, der beim AC Mailand moderne Taktik lernte und heute sein Geld beim FC Middlesbrough verdient, kommentierte Ribbecks Art der taktischen Einstellung in einem Interview mit Sport-Bild: »Es wurde im Endeffekt nie festgelegt, wer wie spielt, wer wo spielt, wer was spielt.«

Ex-Nationaltorhüter Dino Zoff, der schon als Vereinstrainer unter anderem bei Juventus Turin erfolgreich war, glaubt im Gegensatz zu Erich Ribbeck weiterhin an die Sinnhaftigkeit eines ausgeklügelten Spielsystems; nicht-planbare Spielereignisse sind ihm ein Gräuel. Seine spieltaktischen Überlegungen fußen auf der These der Berechenbarkeit des Fußball: Der größte Teil der potenziellen Spielsituationen sei vorhersehbar und deshalb im Training zu simulieren. Entsprechend lässt Zoff die sich im Verlauf eines Spiels ständig wiederholenden Situationen im Training einstudieren.

Die Spieler sollen so die Fähigkeit entwickeln, gegnerische Spielzüge zu antizipieren und Angriffe auf das eigene Tor schon so früh zu verhindern, dass sich Torwart, Libero und im Prinzip auch die gesamte Abwehrkette überflüssig machen. Daher setzt Zoff auf das, was Kollege Ribbeck als deutsche Tugenden bezeichnen würde: Kondition, Kraft und Schnelligkeit. Hinzu kommt beim italienischen Coach noch die Forderung nach Spielintelligenz, was zwar eine Tugend ist, aber keine deutsche.

Die italienische Spielweise gleicht der wissenschaftlichen Lösung eines Problems, das da heißt: Der Gegner darf kein Tor erzielen. Gelöst wird es, indem die individuellen Qualitäten der Spieler mit den Erfordernissen einer erfolgreichen Mannschaftstaktik verbunden werden.

Italien praktizierte bei der Europameisterschaft eine ballorientierte Raumdeckung - in Ballnähe wurde versucht, ständig Überzahlsituation herzustellen. Das attraktive Offensivspiel gegnerischer Teams konnte so erfolgreich neutralisiert werden. Obwohl in Unterzahl, gelang es Italien im Halbfinale über 120 Minuten, kaum Torchancen der Niederlande zuzulassen.

Modern wird dieser Catenaccio durch das schnelle Umschalten von Defensive auf Offensive, auf die mitspielenden Stürmer Francesco Totti und Filippo Inzaghi. Das Umschalten beginnt sofort nach dem erfolgreichen Abfangen des gegnerischen Angriffs: Exzellente Abwehrspieler nehmen sich den Ball und schicken ihre Stürmer auf die Reise. Der zeitraubende Umweg über technisch begabte Mittelfeldspieler, die oft als hängende Spitzen operieren, entfällt.

Hierzulande wird oft argumentiert, gepflegtes Kurzpass-Spiel sei der Inbegriff modernen und guten Fußballs. Diese Art zu spielen, wie sie in der Bundesliga von Volker Finke, dem Trainer des SC Freiburg, gepredigt wird - der prompt von der taz als Ribbeck-Nachfolger gefordert wurde -, ist den erfolgreichen Italienern fremd. Kurzes Passen gilt in Italien als unzweckmäßig - praktiziert wird es eigentlich nur, wenn kurz vor Schluss eine knappe Führung über die Runden gebracht werden muss.

Trainer Zoff hatte vor der EM Probleme, sein Taktikverständnis der sportinteressierten Öffentlichkeit zu erläutern. Große Teile der italienischen Presse nannten ihn verrückt, weil er es wagte, einen der besten Stürmer der Seria A, Alessandro Del Piero, zunächst auf der Bank zu belassen und ihn erst als Joker einzuwechseln. Der Grund aber war, dass Zoffs System schnelle, dribbelstarke Stürmer benötigt, und da konnte Piero, der lange verletzt war, noch nicht wieder mithalten. Das erkannt und auch gegen die italienische Presse durchgehalten zu haben, spricht für Zoff.

Dass es doch nicht zum Titel gereicht hat, ist nicht weiter tragisch. Hat Italien doch als einzige Mannschaft bei dieser Europameisterschaft wirklich Innovatives im Fußball geleistet.