Europa-Rede von Chirac

Die Nation zuerst

Eine dicke Freundschaft war es bisher nicht. Das Verhältnis zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem französischen Präsidenten Jacques Chirac erreichte nie die Intensität des Duos Kohl/Mitterrand. Seit dem Wechsel zu Rot-Grün sympathisierten die Deutschen viel zu sehr mit dem neoliberalen Tony Blair, und das schmeckte den etatistischen Franzosen nicht. Auch nicht, dass ausgerechnet der letzte Keynesianer, der noch dazu den besten Draht zum Elysée hatte, der rot-grünen Regierung den Rücken kehrte. Seit dem Abgang von Oskar Lafontaine ist die Atmosphäre zwischen Paris und Berlin merklich abgekühlt.

Doch die warmen Worte, die Chirac vergangene Woche für die Deutschen fand, dürften jetzt das Klima zwischen Berlin und Paris erheblich verändern. Den ersten Beweis dafür lieferte Chirac, indem er sein europapolitisches Programm von deutschem Boden aus verkündete. Seine Rede als erster ausländischer Staatschef im Reichstag signalisiert den Beginn einer neuen Ära in den deutsch-französischen Beziehungen.

In der Europa-Politik war Frankreich, das am vergangenen Wochenende die EU-Ratspräsidentschaft von Portugal übernommen hat, zuletzt unter Druck geraten. Außenminister Joseph Fischer hatte im Mai mit seiner Idee einer europäischen Föderation und einer Avantgarde innerhalb der EU auch in Paris für Aufsehen gesorgt.

Eine offizielle Antwort blieb Frankreich zunächst schuldig. Nur Innenminister Jean-Pierre Chevènement machte auf sich aufmerksam, als er Fischers Visionen mit den Worten kommentierte, Deutschland habe »sich noch nicht ganz von der Entgleisung erholt, die das Nazitum in seiner Geschichte darstellt«.

Solche Äußerungen passten Chirac nicht ins Konzept. Im Gegenteil: »Deutschland, unser Nachbar, unser Feind von gestern und unser Wegbegleiter von heute!« rief der Präsident im Reichstag. Und als ob Schröder oder Fischer ihn darum gebeten hätten, verkündete er feierlich: »Hier im Bundestag will ich die Entscheidung der Deutschen begrüßen, die zum ersten Mal seit über einem halben Jahrhundert die Entsendung von Soldaten in ausländisches Gebiet akzeptiert haben.« Deutschland ist wieder wer, hier kommt die offizielle Bestätigung von außen. Mit diesem neuen selbstbewussten Deutschland will Chirac in Zukunft eng zusammenarbeiten: »Vive l'Allemagne, Vive la France!«

Fischers Idee eines europäischen Voraus-Kommandos ist ganz nach seinem Gusto. Mehr noch, für Chirac gibt es sogar eine Vorhut innerhalb dieser Avantgarde-Gruppe: die »Pionierländer« Deutschland und Frankreich. »Nur sie können Europa voranbringen«, erklärte Chirac.

Schon nächstes Jahr sollen Deutschland und Frankreich loslegen und weitere pionierwillige Freunde suchen. Ob Tony Blair dabei sein wird, ist fraglich. Der Schulterschluss zwischen Paris und Berlin rückt ihn deutlich ins Abseits.

Die Grenzen dieser deutsch-französischen Avantgarde hat Jacques Chirac allerdings auch benannt: Eine europäische Föderation, wie sie Fischer vorgeschlagen hat, lehnt er ab. Dafür soll es schon bald eine europäische Verfassung geben.

Wie die aussehen soll, ist völlig unklar. Klar ist hingegen, wo für den französischen Präsidenten die Priorität liegen: la nation d'abord - zuerst kommt die Nation. Und dann das Europa der Elite.